Der Mensch wird nicht nur von einer einzigen Kultur oder Religion geprägt, denn Kulturen und Religionen sind keine abgeschotteten Systeme. In der Menschheitsgeschichte gibt es keine Gesellschaft ohne Religion(en) und es existieren mehr Definitionen von Kultur, als es Kulturen gibt.[1] Darüber hinaus ist jeder in seiner kulturellen und religiösen Ausprägung auch individuell (so, wie nicht alle Deutschen gleich sind, sind auch nicht alle Christen gleich).
Bei Handlungen stellt sich die Frage, was daran auf eine religiöse, was auf eine kulturelle und was eventuell auf eine individuelle Prägung zurück zu führen ist und ob sich das, was sichtbar, d.h. oberhalb der Wasseroberfläche ist, mit dem deckt, was sich unterhalb der Wasseroberfläche befindet. Was man wahrnimmt (interpretiert) und was tatsächlich ist, muss nicht immer deckungsgleich sein.
Beispiel: Wenn jemand Kopftuch oder Bart trägt, kann dies als Hinweis auf die Religiosität einer Person verstanden werden (z.B. jüdisch oder christlich Orthodox). Umgekehrt kann jedoch eine Person religiös sein und kein Kopftuch oder Bart tragen. Dies kann sich auch auf Handlungen beziehen: Wenn zum Beispiel jemand jemandem nicht die Hand gibt, fastet oder „salamun alaikum“ sagt, kann dies als Hinweis auf die Religion einer Person verstanden werden. Umgekehrt kann es sich um eine individuell oder kulturell bedingte Handlung handeln. Auch atheistische Türken oder arabische Christen können sich mit „salamun alaikum“ begrüßen.
Hilfreich für interkulturelle und interreligiöse Kompetenzen sind
- Hintergrundwissen
- Empathie
- Interaktion
- Selbstreflexion.
Beispiel: Stellen wir uns vor, dass jemand sich über das Fasten im Islam wertend äußert, wie z.B.: „Das ist ungesund“, und dass diese Äußerung zu einem Streitgespräch zwischen zwei Parteien führt.
Hätten die Betroffenen des Streits
- das nötige Hintergrundwissen zu den Vorteilen des gesunden Fastens und zu den Nachteilen des falschen Fastens, könnten sie sich
- in den jeweils anderen hineinversetzen (Empathie), z.B. auch in einen Fastenden, und würden sie
- miteinander auf eine respektvolle und sensible Art reden (interagieren) und
- darüber nachdenken, was die Ursache des Streits war und sich fragen, was man das nächste Mal besser machen könnte (Selbstreflexion), dann können Konflikte durchaus auch etwas Gutes haben. Denn durch sie können wir lernen, künftige Konflikte besser in den Griff zu bekommen.
Im Mittelpunkt steht die angemessene Interaktion, die aus den Konflikten für künftige interreligiöse oder interkulturelle Themen gelernt wird.
3. Religionssensibilität
3.1 Was ist Sensibilität?
Empathie, Offenheit, Einfühlungsvermögen, Feinfühligkeit, Taktgefühl, Fingerspitzengefühl, Achtsamkeit, Vorsicht, Gespür, Behutsamkeit und viele Begriffe mehr wären Synonyme für „Sensibilität“. All diese Begriffe sind positiv besetzt und das Gegenteil dessen würde negativ wahrgenommen werden, wenn etwa eine Person unachtsam und unvorsichtig, taktlos oder grob, mit anderen Worten: unsensibel wäre.
Sensibilität ist eine Fähigkeit und somit eine wichtige Kompetenz, im Umgang mit anderen. Da sie jedoch auch ein Synonym für Empathie ist, ist sie auch zugleich eine Voraussetzung für die oben erwähnte interkulturelle und interreligiöse Kompetenz.
3.2 Was ist Religion?
Neben der theologischen Auseinandersetzung mit Religion aus der Binnenperspektive der jeweiligen Religion, gibt es auch eine Beschäftigung mit Religion in der Religionswissenschaft, Religionssoziologie, Religionsethnologie, Religionsphilosophie, Religionsphilologie oder Religionsgeschichte, wo Religion jeweils etwas anderes bedeuten kann.
Im Folgenden soll keine ausführliche Definition des Begriffs „Religion[2]“ aus der Perspektive der unterschiedlichen Religionen unternommen werden, weil es keine einheitliche Definition gibt, sondern drei mögliche Ansätze zur Kategorisierung von Religion vorgestellt werden:
3.2.1 Der essentialistische bzw. substanzialistische Religionsbegriff
Dieser bezieht sich auf inhaltliche Merkmale von Religion, wird vom Wesen der Religion abgeleitet und versucht die wesentlichen Attribute von Religion zu charakterisieren: Religion als etwas, das sich auf das Absolute, das Transzendente, das Heilige, das Numinose, das Allumfassende, auf das göttliche bezieht.
3.2.2 Der funktionalistische Religionsbegriff
Dieser definiert Religion über ihre (soziale) Funktion und geht davon aus, dass Religion für das Individuum und die Gesellschaft eine prägende Rolle spielt und diese mitgestaltet. Religion wird gemäß dieser Definition zu einem solidarischen System von Überzeugungen und Praktiken und bildet die Grundlage für eine moralische Gemeinschaft.
Zu den Hauptfunktionen von Religion gehören unter anderem die Vermittlung von Sinn, die Vermittlung eines Wertesystems sowie die emotionale Stabilisierung des Individuums, etwa durch die Vermittlung von Hoffnung und die Reduktion von Angst.
3.2.3 Kulturwissenschaftlicher Ansatz
Eine exakte und allgemeingültige Definition von Religion gibt es nicht, da es keinen Konsens aller Religionen über den Begriff „Religion“ gibt. Allein schon sprachwissenschaftlich, aber auch gesellschaftlich, gibt es Unterschiede im Verstehen und Praktizieren von Religion von Kulturraum zu Kulturraum. Der lateinische Begriff „Religion“ ist zum Beispiel nicht identisch mit dem arabischen Begriff „Dîn“ (siehe dazu Fußnote 1) und während in einigen Ländern Religion als Privatsache gilt (siehe säkulare Gesellschaften) bestimmt in anderen Ländern Religion auch das öffentliche Leben (siehe Saudi Arabien).
Im kulturwissenschaftlichen Ansatz ist Religion einem ständigen Wandel unterworfen und kann daher nicht eindeutig erfasst werden. Auch ihre Entwicklung ist nicht vorhersehbar. Aleviten definieren sich im europäischen Kontext zum Beispiel anders als im türkischen Kontext. Während sie sich hier inzwischen als eine eigenständige Religion verstehen, bezeichnen sie sich im türkischen Kontext überwiegend als Muslime.
3.3 Religionssensibilität
Im Zentrum dieses Kapitels stehen die Fragen, was Religionssensibilität bedeutet, wer alles davon betroffen ist und welche Kompetenzen erforderlich sind, um von Religionssensibilität sprechen zu können.
In der Menschheitsgeschichte gibt es keine Gesellschaft ohne Religion(en) und auch in unserer säkularen Gesellschaft sind Religionen Teil des allgemeinen Pluralismusverständnisses. Im Grunde kann sich in einer pluralistischen Gesellschaft kaum jemand erlauben, ohne interreligiöse und interkulturelle Kompetenzen zu arbeiten. Davon sind Kindergärten genauso betroffen wie Schulen, Krankenhäuser ebenso wie die Polizei.
Vor allem in der Pädagogik ist Religionssensibilität eine spezifische Kompetenz und wird von PädagoInnen, ErzieherInnen und LehrerInnen erwartet, die mit Kindern und Jugendlichen arbeiten. Auch im Bereich sozialer Berufe, in der Familien- und Eheberatung sowie im Bereich der Medizin und Pflege wird diese Kompetenz erwartet.
Religionssensibilität bezeichnet eine Haltung der Achtsamkeit und des Respekts gegenüber religiösen Phänomenen in der Gesellschaft. Wer sich gegenüber religiösen Phänomenen versperrt, wird sehr schnell an seine persönlichen und institutionellen Grenzen stoßen. Probleme und Konflikte sind dann unausweichlich. Wer sich gegenüber religiösen Phänomenen öffnet („religiös musikalisch“ ist), wird eine größere Flexibilität und Bandbreite an Handlungsmöglichkeiten besitzen.
PädagoInnen, ErzieherInnen und LehrerInnen sollten
– sowohl ihre Grundhaltung zur eigenen als auch zu fremden Religionen klären;
– eine lernende Haltung einnehmen und offen für Neues sein;
– seriös und respektvoll mit dem Glauben eines jeden umgehen;
– den Glauben und die Religion anderer als Ressource sehen und nicht als Ballast;
– aufmerksam und offen für religiöse Themen, Fragen und Bedürfnisse sein.
– Wie das gelingen kann?
Seminare zur Interkulturalität oder Interreligiosität in der Ausbildungsphase oder Fort- und Weiterbildungskurse, interkulturelle und interreligiöse Begegnungen, Reisen und Dialoge können die erforderlichen Kompetenzen zur Sensibilität fördern.
- Das nötige (sachliche und fachliche) Hintergrundwissen kann eine größere Sicherheit im Umgang mit vermeintlich Fremden geben.
- Durch Übungen zum Perspektivwechsel können die Betroffenen lernen, sich in andere hineinzuversetzen, was ihre Empathie-Fähigkeit fördert.
- Die richtige Interaktion (Dialog) kann helfen, Fragen sensibler zu formulieren, statt zu provozieren oder zu verletzen.
- Die stete Selbstreflexion kann helfen, immer wiederkehrende Muster zu vermeiden und „Fettnäpfchen“ zu verringern.
3.4 Vermeintliche „Religion“
– Wann ist etwas tatsächlich religiös und wann nur vermeintlich?
Zur Beantwortung dieser Frage gilt es auf die genannten vier Kriterien zurückzugreifen:
- a) Das nötige Sach- bzw. Hintergrundwissen hilft zwischen Religion und vermeintlicher Religion zu unterscheiden (ist die Handlung einer Person, selbst wenn sie diese religiös legitimieren sollte (siehe Beispiele wie „Ehrenmorde“ oder „Zwangsverheiratung“), Bestandteil einer bestimmten religiösen Lehre oder vielleicht kulturell bedingt oder sogar regionalspezifisch?).
- b) Unternehme ich selbst auch Handlungen, die explizit religiös begründet sind oder nur vermeintlich religiös sind (Beispiel: Feiere ich Weihnachten und Ostern, weil ich Christ/in bin oder als kulturelles Fest?).
- c) Wie kann ich von meinem Gegenüber erfahren, wie er/sie selbst seine/ihre Handlung versteht?
- d) Was lerne ich aus Situationen, die ich als religiös empfinde, wenn sich herausstellt, dass es eigentlich vermeintliche Religion war?
Fallbeispiel: Eine schwangere Muslimin reist im Monat Ramadan mit dem Flugzeug nach Damaskus. Als sie während des Flugs etwas isst und trinkt, wird sie von einem muslimischen Mann getadelt, wie sie im Ramadan essen und trinken könne. Sie reagiert auf die Situation eingeschnappt und es gibt keine Aussprache zwischen den beiden.
Als Hintergrundwissen wäre hier wichtig, das laut Koran Reisende vom Fasten befreit sind (Sure 2, Vers 185). Des Weiteren wird innerhalb des Islam die Meinung vertreten, dass Schwangere selbst entscheiden sollen, ob sie fasten wollen oder nicht. Die Betroffene sagt, dass – selbst wenn sie nicht auf Reisen oder Schwanger wäre – sie ihre Menstruation haben könnte und auch deswegen nicht hätte fasten können. Das nötige Hintergrundwissen über die Bedingungen für das Fasten im Islam, wäre hier sicher von Vorteil gewesen. Vermutlich hätte in diesem Falle eine schwangere Muslimin auf die Betroffene anders reagiert als der Mann, weil sie sich eher in sie hinein versetzen könnte. Neben einer sensibleren Interaktion, die vonnöten gewesen wäre, hätte ein aufklärendes Gespräch die Selbstreflexion des Mannes fördern können, damit er denselben Fehler bei einer anderen Person vermeidet. Schließlich sind laut Koran auch Kranke vom Fasten ausgenommen. D.h. die Betroffene hätte auch krank sein können.
3.5 Mögliche Praxisfelder
Wichtige Praxisfelder wären Gespräche mit Kindern und Jugendlichen in pädagogischen Einrichtungen. Auch Dialogveranstaltungen und Kulturfeste, Besuche von religiösen Orten (z.B. einem Moscheebesuch), an denen jedoch nicht nur die „Beobachtung“, sondern die Interaktion gesucht und dabei immer die Selbstreflexion geübt wird, können wichtige Praxisfelder sein: Was hat die Begegnung, das Gespräch mit mir gemacht? Was kannte ich bereits und was war neu? Was hat mich verwirrt? Was war interessant? Worüber möchte ich noch mehr wissen?
Seminare zur interkulturellen und interreligiösen Kompetenz sollen neben der Selbstreflexionskompetenz auch die Wahrnehmungs-, Urteils- und Handlungskompetenz zu fördern. Sollte dies gelingen, kann das pädagogische Arbeitsmaterial nicht nur den sensiblen Umgang mit MuslimInnen fördern, sondern auf Konflikte verschiedenster Art übertragen und angewandt werden.
4. Kompetenzen
Der Begriff der „Kompetenz(en)“ lässt sich in der Linguistik, Psychologie und Berufspädagogik verorten. In der Pädagogik haben maßgeblich die drei Disziplinen Psychologie, Sprachwissenschaft und Soziologie Einfluss darauf genommen.
Definitionstraditionen von Kompetenzen wären:[3]
- Die Bezeichnung der Kompetenzen als kognitive Strukturen und Prozesse, die die Grundlage für konkretes Handeln (Performanz) bilden.
- Kompetenz in der Tradition der Psychologie (= pragmatisch-funktionaler Kompetenzbegriff), die Kompetenz als Befähigung (Disposition) zur Bewältigung unterschiedlicher Anforderungssituationen.
- Kompetenz in Anschluss an einem breiten Kompetenzbegriff, der affektive und motivationale Komponenten mit einschließt und sich an einer umfassenden Handlungsfähigkeit und Mündigkeit orientiert.
Grundmerkmale von Kompetenz wären:[4]
- Kompetenzen äußern sich in der Bewältigung von Handlungssituationen.
- Kompetenzen weisen einen Situations- und Kontextbezug auf.
- Kompetenzen sind subjektgebunden.
- Kompetenzen sind erlern- bzw. veränderbar.
Die unterschiedlichen Verwendungsweisen von Kompetenzen wären:[5]
- Kompetenzen als generell kognitive Leistungsdispositionen, die Personen befähigen, sehr unterschiedliche Aufgaben zu bewältigen.
- Kompetenzen als kontextspezifische Leistungsdispositionen, die sich funktional auf bestimmte Klassen von Situationen und Anforderungen beziehen. Diese spezifischen Leistungsdispositionen lassen sich auch als Kenntnisse, Fertigkeiten oder Routinen charakterisieren.
- Kompetenzen im Sinne der Bewältigung von anspruchsvollen Aufgaben und nötigen motivationalen Orientierungen.
- Handlungskompetenzen als eine Integration der drei erstgenannten Konzepte, bezogen auf die spezifischen Anforderungen eines spezifischen Handlungsfeldes (wie z.B. des Berufes).
- Metakompetenzen als Wissen, die Strategien oder die Motivationen, welche sowohl den Erwerb als auch die Anwendung spezifischer Kompetenzen erleichtern.
- Schlüsselkompetenzen als Kompetenzen im funktionalen Sinn, die aber für einen relativ breiten Bereich von Situationen und Anforderungen relevant sind (wie z. B. muttersprachliche oder mathematische Kenntnisse).
Zusammenfassend kann gesagt werden, dass allen Kompetenzbegriffen Gemeinsame die Entwicklung eines subjektiven Potentials zum selbstständigen Handeln in unterschiedlichen Gesellschaftsbereichen ist.[6]
In diesem Sinne hoffen wir, dass wir mit unseren Seminaren, die Potentiale aller betroffenen Personen zu einem sichereren Handeln in Situationen mit unterschiedlichen Herausforderungen fördern können.
Fußnoten:
[1] Die Herkunft des Wortes „Kultur“, das vom lateinischen „colere“ (pflegen, urbar machen) bzw. „cultura“ und „cultus“ (Landbau, Anbau, Bebauung, Pflege und Veredlung von Ackerboden) abgeleitet ist, also aus der Landwirtschaft stammt, verweist auf einen zentralen Aspekt sämtlicher Kulturbegriffe: Sie bezeichnen das „vom Menschen Gemachte“ bzw. „gestaltend Hervorgebrachte“ – im Gegensatz zu dem, was nicht vom Menschen geschaffen, sondern von Natur aus vorhanden ist.
[2] Zumal der im Deutschen verwendete Begriff „Religion“ aus dem Lateinischen stammt und auf zwei Verben zurückgeführt wird: relegere: „bedenken“, „achtgeben“ oder religare: „wieder vereinigen“, „zurück-, an-, festbinden“. Im Islam wird für „Religion“ der arabische Begriff „Dîn“ verwendet, das sich von dem Verb „dâna“ („schulden haben“) ableitet.
[3] Vgl. Kollewe, Lea Maria (2012): Kompetenzbilanzierung im Medium von Beratungen (Diss.). Frankfurt am Main, S. 25f.
[4] Ebenda, S. 32f.
[5] Ebenda, S. 34f.
[6] Ebenda, S. 33.