Die Pflicht der Zunge zu schweigen
Die Pflicht der Zunge ist mal eine Pflicht zum Schweigen, mal eine Pflicht zum Reden. Die Pflicht des Schweigens besteht darin, dass du von den Fehlern des Bruders schweigst, sei es in seiner Gegenwart oder in seiner Abwesenheit, und so tust, als ob du nichts davon wüsstest; ferner besteht die Pflicht des Schweigens darin, dass du ihm nicht widersprichst und nicht mit ihm streitest, und dass du ihn weder aushorchst noch ausfragst nach dem, was er gern geheim halten will. Wenn du ihn auf der Straße triffst oder mit etwas beschäftigst siehst und er nicht von selber mit dir zu reden anfängt über das, was er vorhat, woher er kommt und wohin er geht, so sollst du nicht danach fragen. Denn vielleicht wäre es ihm lästig oder peinlich darüber zu reden, oder er müsste dir eine Lüge erzählen.
Du sollst Stillschweigen bewahren über das, was der Bruder dir anvertraut und keinem jemals etwas davon sagen, auch nicht deinem nächsten Freund, auch nicht nach einem Bruch oder Zerwürfnis mit dem Bruder, denn das ist niedrig und gemein.
Und du sollst seine Freunde und seine Frau und Kinder nicht tadeln oder schmähen, auch den Tadel anderer ihm nicht hinterbringen; denn der Zuträger der Schmähung ist selbst ein Schmäher. Auch der Prophet r pflegte, wie Anas ibn Mâlik (gest. 709) berichtet, niemandem das ins Gesicht hinein zu sagen, was ihm zuwider sein musste; und die Kränkung kommt zuerst von dem Zuträger, dann erst von dem Urheber der Kränkung. Du sollst aber dem Bruder auch das Lob nicht verhehlen, das du über ihn hörst, denn auch die Freude am Lob kommt zuerst vom Überbringer, dann erst von dem Urheber des Lobes; und ihm das Lob zu verhehlen wäre eitel und ein Zeichen von Neid oder Missgunst.
Du sollst also jegliches Reden, das dem Bruder zuwider ist, unterlassen, sei es lang oder kurz: Es sei denn, dass du ihn in einer Sache zum Rechten mahnen und vom Unrecht abhalten musst, wo dir das Gesetz das Schweigen verbietet. Dann ist es gleich, ob es ihm angenehm oder zuwider ist, denn dann erweist du ihm in Wirklichkeit eine Wohltat, wenn sie ihm auch als Übeltat erscheinen mag. Sonst aber ist es üble Nachrede, und dies ist für alle Gläubige untersagt.
Zweierlei sollte dich davon abhalten, dich über den Fehler deines Bruders aufzuhalten. Denke darüber nach, ob du nicht selber einen Fehler hast, und wenn du einen gefunden hast, so betrachte den Fehler deines Bruders mit milderen Augen, und nimm an, dass er dieser einen Schwäche nun einmal nicht Herr werden kann, so wenig wie du selbst den Fehler abzulegen imstande bist, der dir anhaftet, und urteile um dieses einen Fehlers willen nicht zu hart über ihn, denn wer ist schon frei von allen Fehlern? Und erwarte nicht, dass dein Bruder die Pflichten gegen dich erfüllt, die du selbst nicht gegen Allah erfüllst, denn du hast nicht mehr von ihm zu verlangen, als Allah von dir verlangen kann.
Zum zweiten aber bedenke: Wenn du einen Menschen suchst, der von allen Fehlern frei ist, so bedeutet das den Verzicht auf jede Gesellschaft mit Menschen, denn dann wirst du nie einen Menschen finden, mit dem du umgehen kannst. Jeder Mensch hat Tugenden und Fehler, und wenn die Vorzüge die Fehler überwiegen, so ist das das Äußerste, was du verlangen kannst. Ein edler Gläubiger aber wird sich immer die guten Seiten seines Bruders gegenwärtig halten, damit in seinem Herzen Ehrfurcht, Liebe und Achtung entsteht. Ein niedrig gesinnter Heuchler aber achtet immer nur auf die Fehler und Schwächen. Jemand sagte einmal: „Der Gläubige sucht für den anderen stets Entschuldigungen, der Heuchler aber sucht immer nur nach Fehltritten.“
Ein anderer sprach: „Der Edelmut besteht in der Vergebung der Fehltritte der Brüder.“ Darum spricht der Gesandte Allahs: „Allah bewahre mich vor einem schlechten Nachbarn, der das Gute, das er sieht, bedeckt, und das Böse, das er sieht, an das Licht zerrt.“
Es gibt keinen Menschen, den man nicht wegen dieser Eigenschaften loben und wegen jener tadeln könnte. Imam asch-Schâfi´î (gest. 819) sagte: „Es gibt keinen Muslim der Allah ganz gehorsam wäre, ohne je gegen Ihn zu Sündigen und keinen, der immer gegen Ihn sündigte, ohne Ihm je gehorsam zu sein. Wessen gehorsam aber seine Sünde übersteigt, der ist als gerecht zu betrachten.“ Wenn er einen solchen Mann schon im Verhältnis zu Allah als gerecht gelten lässt, wie viel mehr musst du ihn dann im Verhältnis zu dir selbst, auf Grund eurer Brüderlichkeit, als gerecht gelten lassen!
Wie es nun deine Pflicht ist, mit deiner Zunge von den Fehlern deines Bruders zu schweigen, so musst du auch mit deinem Herzen davon schweigen, d.h. nicht schlecht von ihm denken. Denn das Schlechtdenken von anderen ist wie üble Nachrede mit dem Herzen, und auch dies ist uns Gläubigen untersagt. Dein Bruder hat viel mehr ein Recht darauf, dass du sein Tun nie zum Schlechten auslegst, solange es dir möglich ist, es zum Guten auszulegen. Was sich aber sicher und durch Augenschein als schlechtes Tun erweist, so dass du es unmöglich verkennen kannst, dass musst du ihm, wenn es irgend geht, als Vergehen und Vergesslichkeit zugute halten…
Denn ein solcher Verdacht kann auch in einem Misstrauen, das in dir liegt, seinen Grund haben. In diesem Falle verführt dich dein Misstrauen dazu, die Handlung des anderen, die eine doppelte Deutung zulässt, ohne bestimmtes Anzeichen nach der schlechten Seite auszulegen. Das aber ist ein inneres Unrecht gegen ihn und im Bezug auf jedem Gläubigen untersagt, denn der Gesandte Allahs spricht: „Allah befiehlt, das für den Gläubigen unverletzlich ist seines Bruders Eigentum und Leben und Würde, und dass er nicht schlecht von ihm denken soll.“ Und weiter: „Hütet euch vor dem Verdacht, denn der Verdacht ist das lügnerischste, was dem Menschen seine Seele vorspielt.“ Solcher Verdacht gegenüber den anderen, verführt zum Spionieren und Nachspüren, und der Gesandte Allahs hat gesagt: „Spioniert nicht und spürt nicht nach, brecht nicht miteinander und kehrt euch nicht voneinander ab, sonders seit Allahs Diener als Brüder.“ Das Spionieren besteht darin, dass man sich Berichte über den anderen zutragen lässt, das Nachspüren darin, dass man sein Tun selbst belauert. Aber die Fehler des anderen bedecken und nicht wissen wollen und übersehen, das ist die Art der Frommen. Welch hohe Tugend es ist, das Hässliche zu bedecken und das Schöne ans Licht zu bringen… Der ist Allah wohlgefällig, der Seinen Eigenschaften ähnlich zu werden sich bemüht; Allah ist der Bedecker der Fehler, der Vergeber der Sünden und ist nachsichtig mit seinen Dienern. Willst du da nicht nachsichtig sein mit dem, der dir gleich ist oder über dir steht, gewiss aber nicht dein Diener ist und dein Geschöpf?
Isa u (Jesus) sprach: „Was denkt ihr über einen Mann, der seinen Bruder schlafen sieht und seine Scham entblößt, so dass er nackt daliegt?“ Sie sagten: „O Gesandter Gottes, wer wird sich unterfangen, solches zu tun?“ Er sprach: „Ihr selbst, wenn ihr den Fehler, den ihr von eurem Bruder wisst, aufdeckt und davon redet, so dass andere davon erfahren.“
Wisse: Kein Mensch hat den rechten Glauben, solange er nicht seinem Bruder dasselbe wünscht, was er sich selbst wünscht; und den Bruder so zu behandeln, wie man selbst von ihm behandelt werden will, das ist doch die allerniedrigste Stufe der Brüderlichkeit. Sicherlich erwartest du nun von ihm, dass er deine Blöße bedeckt und über deine Fehler und Schwächen schweigt, und würdest sehr zornig auf ihn werden, wenn er dich in dieser Erwartung täuschte. Wie befremdlich aber wäre es, wolltest du von ihm verlangen, wozu du selbst nicht bereit bist. „Wehe“ wird in im Koran über solchen Menschen gerufen: „Wehe denen, die dass Maß verkürzen, die, wenn sie sich zumessen lassen, volles Maß verlangen, wenn sie aber zumessen oder wegen, zu wenig geben.“ (Sure 83:1-3). Jeder, der mehr für sich verlangt, als er selbst gewährt, wird durch diesen Vers getroffen.
Die Ursache dafür, die Blöße des anderen nicht zu bedecken oder des Eifers, sie aufzudecken, ist aber jene verborgene Krankheit des Herzens: geheimer Hass und Neid. Denn der Hasser füllt sein Herz mit Bosheit, hält sie aber in seinem inneren zurück und verbirgt sie und lässt sie sich nicht anmerken, solange er keine Möglichkeit dazu findet. Ergibt sich aber die Gelegenheit, so löst sich die Fessel und schwindet die Scham, und das Herz strömt seine vergrabene Bosheit aus. Wo aber das Herz mit Hass und Neid erfüllt ist, da ist es am besten, sich ganz zurückzuziehen. Ein Weiser sagt: „Offenes Schelten ist besser als geheimer Hass, und die Freundlichkeit eines Menschen, der im geheimen hasst, kränkt nur um so mehr.“ Wer aber einen solchen Groll gegen einen Muslim im Herzen trägt, dessen Glaube ist Schwach, und es steht schlimm um ihn, und sein Herz ist voll Bosheit und taugt nicht dazu, zur Gegenwart Allahs zu gelangen.
Weiter gehört zu dieser Pflicht, dass du das Geheimnis nicht verrätst, das dir der Bruder anvertraut. Du darfst das Geheimnis ableugnen, denn nicht an jedem Ort ist es Pflicht die Wahrheit zu sagen. Sondern sowie es einem Menschen erlaubt ist, seine eigenen Fehler und Geheimnisse zu verbergen, so darf er das auch für seinen Bruder tun. Denn der Bruder gilt doch für ihn so viel wie er selbst. Sie sind wie eine Person und unterscheiden sich nur dem Leibe nach voneinander, denn darin besteht ja das Wesen der Brüderlichkeit…
Der Gesandte Allahs sagt: „Wer die Blöße seines Bruders bedeckt, den bedeckt Allah in dieser und in jener Welt.“…
Das Herz des Einfältigen ist auf seiner Zunge, aber die Zunge des Weisen ist in seinem Herzen, das heißt: Der Einfältige kann nichts für sich behalten, sondern lässt die Leute alles wissen, ohne es zu merken. Darum muss man sich vor den Einfältigen fernhalten und sich vor ihrer Gesellschaft ja vor ihrem Zusehen hüten. Einer, den man fragte, wie er es mit dem Bewahren von Geheimnissen halte, antwortete: … „Ich verberge es und verberge, dass ich es verberge.“…
Einer der Alten hatte seinem Bruder ein Geheimnis anvertraut. Als er ihn fragte: „Hast du es bewahrt?“, sagte dieser: „Nein, ich habe es vergessen.“
Sufyân ath-Thauri (gest. 777) pflegte zu sagen: „Willst du einem Menschen zum Bruder nehmen, so erzürne ihn und lass dann einen anderen ihn nach dir und deinen Geheimnissen fragen. Wenn er dann gutes von dir sagt und dein Geheimnis nicht verrät, so nimm ihn zum Freund.“
Jemand wurde gefragt: „Mit was für Leuten hältst du Freundschaft?“ Da sagte er: „Mit dem, der von dir alles weiß und es dann so verborgen hält, wie es Allah verborgen hält.“
Ein anderer sagte: „Nicht taugt zum Freunde, wer dich nicht von aller Schuld frei sehen möchte.“
Das Geheimnis zu verraten, wenn man zürnt, das ist niedrig und gemein, denn das man bei ungetrübter Freundschaft das Geheimnis bewahren muss, versteht sich von selbst. Ein weiser Mann hat gesagt: „Nimm den nicht zum Freunde, dessen Gesinnung gegen dich nicht in vier Fällen gleich bleibt: in der Gunst und in der Verstimmung, in der Begierde und in der Leidenschaft.“ Die Aufrichtigkeit der Brüderlichkeit muss sich in alledem gewähren. Darum sagt ein Dichter:
Du erkennst den Edlen, wenn du ihn von dir stößt. Er rühmt deine Tugend und verbirgt deine Schmach.
Du erkennst den Schlechten, wenn du ihm Treue hältst. Er verbirgt das Gute und sagt dir Schlechtes nach.
Abbâs (gest. 652), der Onkel des Propheten r sagte zu seinem Sohn Abdullah: „Ich sehe das Umar dich den alten Leuten vorzieht, darum merke dir Fünf Dinge: Plaudere nie sein Geheimnis aus, verleumde niemanden bei ihm, lass dich nie von ihm auf einer Lüge ertappen, widersetze dich ihm nie und lass ihn nie Verrat von dir sehen.“
Der Gesandte Allahs sagt: „Wer nicht widerspricht, wenn er im unrecht ist, dem wird ein Haus in den Vorstädten des Paradieses gebaut, wer aber dann nicht widerspricht, wo er im Recht ist, dem wird ein Haus in der höchsten Höhe des Paradieses gebaut.“ Das sagt er, obwohl doch eigentlich nicht zu widersprechen, wenn man unrecht hat, eine unbedingte Pflicht ist; für das Schweigen, wenn man recht hat, verspricht er deshalb größeren Lohn, weil es der Seele härter vorkommt als das Schweigen, wenn man unrecht hat. Das Verdienst richtet sich immer nach der Größe der Mühe, die mit einer Leistung verbunden ist.
Der Streit ist es, was die Flamme des Grolles zwischen Brüdern entfacht, und es ist ja im Grunde nichts anderes als Bruch und Entzweiung. Denn man entzweit sich zuerst mit den Ansichten, dann mit den Worten und dann mit den Leibern.
Einer der Alten hat gesagt: „Ein jämmerlicher Mensch ist, wer es verfehlt, sich Brüder zu suchen, noch jämmerlicher aber ist der, der sich selber um den betrügt, den er bereits gefunden hat.“ Das Streiten aber ist etwas, das dich um den Freund betrügt und ihn dir entfremdet und zum Feinde machen kann. Hasan al-Basri (gest. 728) sagt: „Erkaufe nicht die Feindschaft eines Mannes mit der Liebe von Tausend Männern.“ Der Gesandte Allahs spricht: „Widersprich nicht dem, was dein Bruder sagt, treibe keinen Spott mit ihm und halte, was du ihm versprochen hast.“
Dieses Streiten hat ja doch keinen anderen Grund, als das du deine Überlegenheit an Verstand und Bildung zeigen und den anderen durch Bloßstellung seiner Unwissenheit herabsetzen willst. Damit aber erhebst du dich über den anderen und zeigst ihm deine Verachtung, beleidigst ihn und beschuldigst ihn der Dummheit, und das ist doch offene Feindseligkeit. Wie sollte es sich mit der Brüderlichkeit und Freundschaft vertragen?
Manche der Alten gingen in dem Verbot des Widerredens und dem Gebot, zu helfen, so weit, dass sie selbst das Fragen verwarfen und sagten: Wenn du zu deinem Bruder sagst: „Steh auf und komm!“ und er fragt: „Wohin?“ so nimm ihn nicht zum Gefährten, denn er muss aufstehen, ohne zu fragen.“ … Ein anderer sagt: Wenn du deinen Bruder um Geld bittest und er spricht: „Was willst du damit tun?“, so hat er schon die Pflicht der Brüderlichkeit versäumt.
Wisse: Der Bestand der Brüderlichkeit beruht auf der Gehorsamkeit in Wort und Tat und der liebenden Fürsorge.
Die Pflicht der Zunge zu reden
Wie es Pflicht der Brüderlichkeit ist, zu schweigen von allem, was dem Freund zuwider ist, so erfordert sie auch, dass man das sagt, was ihm angenehm ist. Ja grade das ist die Eigenschaft der Brüderlichkeit, denn wer sich auf das Schweigen beschränkt, der hat die Toten in den Gräbern zu Gefährten. Man sucht doch nach Brüdern um von ihnen zu profitieren, nicht nur, um vor ihren Kränkungen sicher zu sein. Das Schweigen aber hat keinen anderen Sinn, als das die Kränkung unterlassen wird.
Darum sollst du deinem Bruder mit der Zunge deine Liebe bezeugen… Wenn es ihm schlecht geht, sollst du danach fragen und den Bruder merken lassen, dass es dir nahe geht und du mit Ungeduld auf eine Besserung wartest. Du sollst bei allem Leid, das dem Bruder widerfährt, ihn mit Wort und Tat wissen lassen, dass es auch dich betrübt, und bei allen Freuden, dass du dich mit ihm freust. Denn Brüderlichkeit bedeutet ja nichts anderes als Gemeinsamkeit von Freud und Leid.
Der Gesandte Allahs spricht: „Wenn einer seinen Bruder liebt, so soll er es ihm sagen.“ Das soll er darum tun, weil dadurch die Liebe größer wird; denn wenn er merkt, das du ihn liebst, so wird er dich Notwendig wieder lieben, und wenn du merkst, das auch er dich liebt, so wird deine Liebe wieder Größer, und so wächst die Liebe und vervielfältigt sich auf beiden Seiten… Darum lehrt uns der Gesandte Allahs den Weg dazu, indem er spricht: „Beschenkt euch untereinander, so gewinnt ihr einander lieb.“
Dazu gehört auch, das du den Bruder mit seinem liebsten Namen nennst, sei er abwesend oder zugegen. Umar (gest. 644) sprach: „Drei Dinge gewinnen die lautere Liebe deines Bruders: Dass du ihn zuerst grüßt, wenn du ihm begegnest, das du ihm einen bequemen Platz zum Sitzen anbietest, und das du ihn bei seinem liebsten Namen rufst.“ Ferner sollst du auch seine Vorzüge bei dem rühmen, bei dem er gern gelobt werden möchte, denn das ist ein gutes Mittel, seine Liebe zu gewinnen. Auch sollst du seine Kinder und seine Angehörigen, seine Arbeit und sein Tun loben, und seinen Verstand, sein Wesen, seine Erscheinung, seine Schrift, seine Dichtungen, seine Werke rühmen, und alles andere, worüber er sich freut. Bei alledem sollst du nicht lügen und übertreiben, aber das, was du loben kannst, musst du auch loben. Noch stärker als dies ist, dass du ihm das Lob überbringst, das andere ihm gespendet haben, und deine Freude darüber zeigst, denn solches Lob zu verbergen, wäre eitel und ein Zeichen für Neid. Ferner sollst du ihm danken für das Gute, das er dir getan, ja auch nur zu tun vorgehabt hat, auch wenn es nicht zur Ausführung kam. Ali (gest. 661) sagt: „Wer seinem Bruder nicht für seinen guten Willen dankbar ist, der dankt ihm auch nicht die Gute Tat.“
Vor allem aber kannst du dadurch seine Liebe gewinnen, das du ihn in Schutz nimmst, wenn üble Nachrede über ihn geführt oder seine Würde mit hässlicher Rede offen oder versteckt verletzt wird. Denn es ist Pflicht der Brüderlichkeit, den Bruder in Schutz zu nehmen und ihm zu helfen, dem Beleidiger das Maul zu stopfen und ihn zurechtzuweisen. Wenn du zu solchen Reden stille schweigst, so kränkt das den Bruder und entfremdet dir sein Herz, und es ist eine Verletzung der Pflicht der Brüderlichkeit. Der Gesandte Allahs vergleicht darum das Bruderpaar mit zwei Händen, deren eine die andere wäscht, weil der eine dem anderen helfen und für ihn einstehen soll. Er sagt auch: „Der Muslim ist der Bruder des Muslims, er tut ihm nicht Unrecht und lässt ihn nicht im Stich und liefert ihn nicht aus.“ Zu Verleumdungen schweigen heißt aber ausliefern und im Stich lassen. Denn wenn der Bruder es ruhig mit ansieht, wie des Bruders Ehre zerrissen wird, so ist das nicht anders als wenn er zusähe, wie sein Fleisch zerrissen wird. Welch elender Bruder, der zuschaut wie die Hunde dein Fleisch zerreißen, und stille schweigt, und Mitleid und Zorn rühren ihn nicht, dich zu verteidigen! Und das Zerreißen der Würde tut mehr weh, als das Zerreißen des Fleisches.
So gehört es also zu den Pflichten, die aus dem Bund der Brüderlichkeit erwachsen, dass man die Brüder in Schutz nimmt und gegen Tadel der Feinde und die Schmähung der Beleidiger verteidigt.
Sprich über deinen abwesenden Bruder nicht anders, als du möchtest, dass er über dich in deiner Abwesenheit spricht. Dafür hast du zwei Prüfsteine: Stelle dir vor, das, was da über deinen Bruder gesagt wird, würde über dich gesagt werden und dein Bruder hörte es mit an. Was du dann wünschst, dass dein Bruder sagen sollte, das musst du selbst dem Beleidiger deines Bruders entgegnen. Oder stelle dir vor, dein Bruder stünde hinter der Wand und hörte alles, was du über ihn sagst, und glaubte, du wüsstest es nicht. Was sein Herz vor seinen Augen und Ohren zu seiner Verteidigung zu sagen treibt, das musst auch du sagen, wenn er abwesend ist.
Das ist lautere Gesinnung gegen den Bruder, dass gleich Abwesenheit und Gegenwart ist, Zunge und Herz, Alleinsein mit ihm oder Zusammensein, Vertraulichkeit oder Öffentlichkeit. Wenn aber da Unterschiede sind, so ist die Liebe falsch und der Glaube unecht, und der Islam nur betrügerische Anmaßung.
Wer aber dazu nicht imstande ist, für den wäre es besser, sich in die Einsamkeit zurückzuziehen und allein zu leben, statt Brüderlichkeit und Freundschaft zu pflegen. Denn die Pflicht der Freundschaft ist schwer, und niemand kann sie erfüllen, außer dem, der in die Wahrheit eindringt. Und groß ist ihr Lohn und niemand erlangt ihn, außer dem, dem Allah selbst beisteht.
Zu der Pflicht des Redens gehört auch, dass du den Bruder belehrst und ermahnst. Denn dein Bruder bedarf des Wissens nicht minder als des Geldes. Wenn du reich an Wissen bist, so musst du ihm von deinem Überfluss mitteilen und ihn hinleiten zu dem, was seinem zeitlichen und ewigen Heil dient. Und wenn du ihn belehrt hast, er aber nicht der Lehre gemäß handelt, so sollst du ihn ermahnen, das heißt ihm zeigen, dass seine Handlung ihm Schaden bringt und das es besser für ihn ist, sie zu unterlassen…
Du sollst ihn auf seine Fehler aufmerksam machen und ihm das hässliche hässlich und das schöne schön erscheinen lassen. Doch darfst du das nur unter vier Augen tun, so dass es niemand erfährt. Denn was unter vier Augen sorgende Liebe und Guter Rat ist, wird in Gegenwart anderer zu Beschimpfung und Beschämung. Denn der Gesandte Allahs spricht: „Der Gläubige ist dem Gläubigen ein Spiegel“, das heißt, er verhilft ihm zur Erkenntnis seiner Fehler, die er allein nicht sehen kann, wie er durch den Spiegel die Fehler seiner äußeren Gestalt erkennt. Asch-Schâfi´î sagt: „Wer seinen Bruder im Verborgenen ermahnt, der gibt ihm guten Rat und schmückt ihn, wer ihn aber öffentlich ermahnt, der beschämt ihn und stellt ihn bloß.“
Jemand wurde gefragt: „Liebst du den, der dir deine Fehler sagt?“ Er sprach: „Ja, wenn er mich unter vier Augen zurechtweist. Wenn er mich aber vor den Leuten angreift, dann nicht.“ Und damit hat er Recht, denn öffentliche Ermahnung bedeutet Bloßstellung.
Der Unterschied zwischen Schmähung und freundlicher Ermahnung liegt eben in dem öffentlichen oder vertraulichen Charakter der Zurechtweisung, sowie der Unterschied zwischen nachsichtiger Milde und heuchlerischer Nachgiebigkeit in dem Beweggrund liegt, der dich zur Nachsicht veranlasst. Tust du es um des Heiles deiner Seele willen, so ist es nachsichtige Milde, tust du es um Vorteile zu erlangen, deine Begierde zu stillen und deine einflussreiche Stellung zu behalten, so ist es heuchlerische Nachgiebigkeit. Wenn du nun sagst: Wenn ich dem anderen seine Fehler entgegen halte, so verletze ich ihn doch; wie kann das Pflicht der Brüderlichkeit sein? So wisse: Verletzen wirst du den Bruder nur dann, wenn du von Fehlern sprichst, die er schon selber weiß; wenn du aber auf etwas Aufmerksam machst, was er nicht weiß, so ist das sorgende Zärtlichkeit und gewinnt die Herzen, d.h. die Herzen vernünftiger Menschen; um die Unbelehrbaren aber kümmert man sich nicht. Denn wer dich auf eine tadelnswerte Handlung aufmerksam macht, die du begangen hast, oder auf eine tadelnswerte Eigenschaft, die dir anhaftet, damit du dich davon befreien kannst, der gleicht jemandem, der dich auf einer Schlange oder einen Skorpion aufmerksam macht, der dich gefährdet. Was wärst du für ein Narr, wenn du ihm das übel nehmen wolltest! Die bösen Eigenschaften sind aber wie Skorpione und Schlangen, die dich in der Ewigkeit ins verderben bringen, denn sie stechen in die Herzen und in die Seelen, und ihr Stich tut mehr weh, als der Schmerz, der die Leiber verwundet…
Dies alles aber gilt nur von Fehlern, die der Bruder nicht selbst bemerkt; wenn du aber weißt, das er seinen Fehler kennt, das aber seine Natur ihn immer wieder dazu zwingt, so sollst du ihn nicht aufdecken, wenn er ihn selbst geheim hält. Trägt er aber seine Fehler offen zur Schau, so musst du ihm freundlich zureden, andeutend oder in aller Offenheit, doch so, dass du ihn nicht verletzt. Siehst du aber, dass deine Ermahnung ohne Wirkung bleibt und seine Natur ihm zum Beharren in demselben Tun zwingt, so tust du besser daran, davon stillzuschweigen. Das alles gilt aber nur da, wo es sich allein um das zeitliche und ewige Wohl deines Bruders handelt. Fehlt er aber gegen dich, so ist es Pflicht, das zu ertragen und zu verzeihen und zu übersehen, denn dagegen anzugehen, das gehört nicht zur Pflicht der Ermahnung. Wenn aber sein Beharren auf den Fehler droht, zum Bruch zwischen euch zu führen, so ist vertrauliche Vorhaltung besser als Abbruch der Freundschaft, andeuten besser als offen Sagen, Schreiben besser als Reden und Ertragen besser als alles andere. Denn die Absicht, die du bei der Freundschaft zu dem Bruder hast, muss doch die sein, das du dich selbst erziehst, in dem du auf ihn Rücksicht nimmst und die Pflichten gegen ihn erfüllst und seine Schwächen erträgst, nicht aber die, um Hilfe und Dienste von ihm in Anspruch zu nehmen…
Jemand erzählt: „Ich begleitete einen Bruder auf einer seiner Fahrten in die Wüste. Er sagte „Entweder musst du der sein, der zu befehlen hat, und ich der, der zu gehorchen hat, oder ich will befehlen und du musst gehorchen.“ Ich sagte: „Du sollst der sein, der zu befehlen hat.“ Da sprach er: „So hast du zu gehorchen.“ Ich sagte: „Gut.“ Da nahm er einen Reisesack, legte unsere Vorräte hinein und lud ihn sich auf den Rücken. Ich sagte: „Gib ihn doch mir!“ Er sagte: „Hast du nicht gesagt, ich solle befehlen? Also hast du zu gehorchen.“
Am Abend wurden wir vom Regen überrascht. Da stand er bis zum Morgen und hielt von mir mit seinem Gewand den Regen ab, und sobald ich etwas sagen wollte, sprach er: „Ich habe zu befehlen und du hast zu gehorchen.“ Da dachte ich bei mir: „Wäre ich doch gestorben und hätte nicht gesagt: Du sollst befehlen.“
Aus: Al-Ghasali: Das Elixier der Glückseligkeit. Verlag: Eldomiaty, 2009, S. 110-125