Die Kernfragen, mit denen sich dieser Beitrag befasst, lauten:
1. Ist Kritik erlaubt?
2. Falls ja, woran und falls nein, warum nicht?
Eine der sensibelsten Themen unserer hiesigen Gesellschaft ist das Thema „Antisemitismus“. Während einige Kritiker differenzieren zwischen Kritik an der israelischen Politik (oder Regierung) bzw. einer bestimmten politischen Entscheidung und dem Judentum als Religion und dem Zionismus als Bewegung, machen andere bei ihrer Kritik keinen Unterschied zwischen Israel, Judentum und Zionismus. In der Realität gibt es jedoch auch Juden, die keine israelischen Staatsbürger sind, Juden, die den Staat Israel nicht anerkennen, konvertierte Juden, die keine Semiten sind oder Zionisten, die keine Juden sind. Demnach müsste doch zwischen diesen drei unterschieden werden? Das wäre zumindest eine logische Schlussfolgerung.
Bei einer undifferenzierten Formel würde dies jedoch so aussehen:
Kritik an Judentum = Antisemitismus
Kritik an Israel = Antisemitismus
Kritik an Zionismus = Antisemitismus
Ist jedoch jede Kritik gleichzusetzen mit (Juden-)Hass und (Juden-)Feindschaft?
– Wie ist es mit anderen Religionen und Ethnien?
Ist Kritik zum Beispiel an der US-Regierung, am Christentum oder Christen legitim?
Und falls ja, ist das = Anti-Amerikanismus oder Anti-Christianismus?
Ist Kritik an der türkischen Regierung, am Islam oder an Muslimen legitim?
Und falls ja, ist das = Türken- oder Islamfeindlichkeit?
Unter den Verteidigern von Israel, Judentum und/oder Zionismus gibt es welche, die jede Kritik als Antisemitismus werten. Da für diese jede Kritik verboten ist und alles als Antisemitismus bezeichnet wird, muss man immer(!) damit rechnen, von den Vertretern dieser rigoristischen Ideologie als Antisemit bezeichnet zu werden, unabhängig davon, ob die Kritik berechtigt ist oder nicht. Jeder, der Kritik übt, egal wie differenziert und berechtigt das auch sein mag, muss sich diesem Vorwurf stellen (siehe auch den Beitrag von Moshe Zuckermann: https://www.jungewelt.de/…/304364.deutsche-befindlichkeiten…).
Was das andere Extrem anbetrifft, nämlich undifferenziert Kritik zu üben und eben keinen Unterschied zwischen Judentum, Israel und Zionismus zu machen, so liegt hier eine Feindschaft vor, wobei dennoch gefragt werden muss, ob jede Feindschaft als „Antisemitismus“ bezeichnet werden darf oder ob es sich in Wirklichkeit um Menschenfeindlichkeit bzw. Rassismus handelt. Beispiel: Was an der Kritik an illegalen und völkerrechtswidrigen Siedlungen, die die Regierung zu verantworten hat, soll antisemitisch sein? Jede Form von Völkerrechtsverletzungen oder Illegalität – egal von wem diese ausgeht – muss sogar kritisiert werden!
Die für mich wichtigste Frage lautet daher: „Gibt es Kritik – egal ob an Israel, Judentum oder Zionismus – die erlaubt ist, ohne als Antisemit beschimpft zu werden?“ Und damit meine ich nicht aus der Sicht jener, die undifferenziert alles als Antisemitismus bezeichnen, sondern das, was hierzulande juristisch wie gesellschaftlich legitim ist (dies mag in den USA oder in Israel wiederum anders bewertet werden). Welche Kritik ist also erlaubt? Und dies ist keine politisch formulierte Frage, sondern eine wissenschaftlich formulierte Frage. Schließlich ist auch Kritik an Saudi Arabien, am Islam oder am sogenannten „Islamismus“ erlaubt oder gibt es ein Land, eine Religion oder eine Bewegung, an der hierzulande Kritik kategorisch verboten ist?
Eine Gruppe schiitischer Muslime hat z.B. in Oldenburg und Hannover eine Unterschriftenaktion mit dem Titel „Israel ist illegal“ gestartet. Kampagnen gibt es viele, wie etwa auf dieser Seite kritisiert wird: http://www.ejka.org/…/antiisraelische-kampagnen-%E2%80%93-w…. Die mir bekannteste Aktivistengruppe ist Jewish Voice for Peace (https://www.facebook.com/JewishVoiceforPeace/?ref=ts&fref=ts). Auch die Beiträge von Evelyn Hecht Galinski, der Tochter des ehem. Vorsitzenden des Zentralrats der Juden in Deutschland sind von scharfer Kritik gekennzeichnet, wobei ihre Gegner auch sie – obwohl sie Jüdin ist – als Antisemitin bezeichnen (https://www.facebook.com/evelyn.hechtgalinski?fref=ts). Wenn schon Jüdinnen und Juden, die Israel-Kritik üben, als Antisemiten bezeichnet werden, wie steht es dann um Muslime oder deutsche Christen?
Ist Prof. Wolfgang Benz, der das Zentrum für Antisemitismusforschung leitet, ein Antisemit (http://www.tagesspiegel.de/…/essay-von-wolfga…/12012712.html) oder ehem. deutsche Außenminister Sigmar Gabriel, nur weil das irgendjemand behauptet?
Noch einmal zurück zur Kernfrage: Nehmen wir einmal an, jede Kritik gilt als Antisemitismus, dann wäre keine Kritik erlaubt, unabhängig davon, ob das juristisch legitim ist oder nicht. Nehmen wir aber an, in einem gewissen Rahmen ist Kritik erlaubt, wie sieht dann dieser Rahmen aus und wer bestimmt ihn (hierzulande)? Die Aktivisten aus Oldenburg haben mit ihrer Aktion – so zumindest laut Medienberichten – nicht gegen geltendes Recht verstoßen (siehe http://www.noz.de/…/volksverhetzung-in-delmenhorst-verfahre…), aber sie könnten dennoch aufgrund ihrer Grundhaltung oder ihrer sonstigen Äußerungen als Antisemiten bezeichnet werden. Wann aber ist man auch in Deutschland kein Antisemit, wenn man z.B. Israel kritisiert? Die Klärung dieser Fragen ist m.E. deshalb so wichtig, weil es in der Natur eines jeden Menschen liegt, Dinge, die ihm als falsch oder ungerecht erscheinen, kritisieren zu müssen. Wenn Täter, an denen Kritik geübt wird, den Spieß jedes Mal umdrehen und die Kritiker zu Tätern und sich zu Opfern machen, dann mag auch das zur menschlichen Natur gehören, so ist dies jedoch fern jeder Logik und Vernunft.
Dabei würde die Beantwortung dieser Frage viel Druck aus der Debatte nehmen und die Polarisierung zwischen pauschaler Kritik und pauschaler Kritik an der Kritik aufheben, wenn man auch einen Rahmen für legitime Kritik definieren könnte. Dann würde man nicht den Extremisten beider Seiten die Definitionshoheit überlassen. Mir ist bewusst, dass auch ich Gefahr laufe, allein schon wegen meiner Forderung, einen Rahmen für Kritik einzufordern, als Antisemit zu gelten. Doch die Bewertung von Extremisten, die Blind jedes Unrecht verteidigen, darf nicht der Maßstab sein, an dem wir uns selbst messen. Denn dann werfen wir alle hoch gepriesenen Werte wie Meinungs- und Pressefreiheit, Freiheit von Forschung und Lehre, ja sogar das freie Denken selbst über Bord.
Nun ein Perspektivwechsel: Wenn wir Muslime jede Kritik am Islam oder an Regierungen unserer Länder pauschal als Islamfeindlichkeit (oder Rassismus) kritisieren, dann dürfen wir uns nicht wundern, wenn auch andere jede Kritik an ihrer Religion, ihrem Land oder ihrer politischen Orientierung zum Beispiel als „Antisemitismus“ bezeichnen. Wir dürfen nicht ein Spiegel jener werden, die wir kritisieren. Auch wir brauchen also einen Rahmen, wo wir Kritik gelten lassen können und müssen, ohne das daraus Hass und Feindbilder hergeleitet werden. So wie ich die Frage an die Allgemeinheit richte, welche Kritik an Israel, Judentum und Zionismus wären aus eurer Sicht legitim, ohne als Antisemit zu gelten, wäre meine zweite Frage an uns Muslime, welche Kritik an unseren Ländern, unserer Religion oder unserer politischen Ausrichtung wäre aus eurer Sicht legitim? Wer jedoch jegliche Kritik ablehnt, wird auch jene, die jegliche Kritik ablehnen, sicher am besten verstehen können.