Das „Selam-Hello-Modell“ nach Ali Özdil
1. Einleitung
In allen Begegnungen ist das allererste, was wir tun, die gegenseitige Begrüßung.
Geht man z.B. an seinen Nachbarn vorbei, sagt man (je nach Tageszeit) etwas ganz Bestimmtes (wobei man in Hamburg immer „Moin, Moin“ sagen kann). Begegnet man Menschen, zu denen man enge Beziehungen pflegt – wie z.B. Verwandten oder Freunden – da sagt man nicht nur „guten Morgen“ oder „Hallo“, sondern pflegt eine andere Form der Begrüßung (z.B. umarmt man oder küsst sich).
In anderen Situationen – z.B. bei Arbeitskollegen, Geschäftspartnern etc. – pflegt man wiederum andere Begrüßungsformen.
Menschen gleicher Begrüßungskultur haben immer einen gemeinsamen „Code“ (wobei gesellschaftliche Codes nicht nur auf die Begrüßungskultur zu beschränken wären).
Die übliche Begrüßung in Deutschland ist z.B. das Händeschütteln. Das ist ein im Unterbewusstsein gespeicherter Code, nachdem diese Gesellschaften funktioniert. Diese Codes geben uns Sicherheit. In anderen Kulturräumen verneigen sich die Menschen voreinander als Zeichen von Bescheidenheit, Achtung und Demut (siehe Japan) oder sagt sich gegenseitig eine Grußformel, wie z.B. „Namaste“ („Verbeugung zu dir“), wie im indisch geprägten Teil unserer Erde, ohne sich die Hand zu geben.
Während die einen also Körperkontakt durch das Geben der Hand pflegen, gibt es in anderen Kulturen lediglich eine mündliche Begrüßung mit einer körperlicher Geste. In manchen Kulturräumen wiederum gibt es auch Formen, wo man sich auf die Wangen küsst oder zumindest einen Wangenkuss simuliert.
In pluralistischen Gesellschaften – und dazu zählt inzwischen auch Deutschland – begegnen wir sehr vielfältigen Begrüßungsformen. Je nachdem, wie viel Hintergrundwissen wir über diese verfügen und wie ambiguitätsfreundlich wir sind, umso flexibler, toleranter und respektvoller gehen wir mit diesen natürlichen Unterschieden um.
Von jemandem – trotz all dieser Unterschiede – zu erwarten, dass er/sie sich an die Dominanzgesellschaft anzupassen habe, bringt nicht selten Konflikte mit sich. Zumindest gibt es Situationen, die für eine und oder häufig auch für beide Seiten unangenehm sein können. In unserem deutschen Kontext sorgt die unterschiedliche Begrüßungskultur bei der Begegnung zwischen Muslimen und Nichtmuslimen gelegentlich für Verwirrung und führt teilweise zu Konflikten, sofern sich Mann und Frau begegnen. Dabei wird dem jeweils anderen Respektlosigkeit oder Anpassungsunfähigkeit vorgeworfen. Hinter den Unterstellungen stecken nicht selten tiefer sitzende Interessen und Wertevorstellungen (Respekt, Scham, Vorstellungen von Gleichberechtigung usw.), die auf das Gegenüber projiziert werden. Auch wenn in islamisch-geprägten Kulturräumen das Händeschütteln bekannt und üblich ist, ist der Code, der sich durchgesetzt hat, dass Männer und Frauen keinen Körperkontakt pflegen, sondern sich mit „Selamun aleykum“ (Friede sei mit euch) begrüßen.
2. Das „Selam-Hello-Modell“
Die folgende Übung (ich nenne sie das „Selam-Hello-Modell“) soll dabei behilflich sein, im Rahmen von interkulturellen Kompetenzen, die nötige Sensibilität für unterschiedliche Begrüßungskulturen zu entwickeln.
Für diese Übung werden drei Männer und drei Frauen benötigt, wobei jeder selbst entscheiden darf, wie weit er/sie mit der Übung gehen möchte. Die Übung ist zwar einfach, aber mit einer intensiven Selbsterfahrung verbunden.
Vorbereitung: Es stellen sich einen Mann vor einen Mann, eine Frau vor eine Frau und eine Frau vor einen Mann.
1. Schritt: Ich bitte die TeilnehmerInnen sich erst einmal verbal zu begrüßen. Sie sagen in der Regel „Hallo“, „guten Tag“ usw.
2. Schritt: Ich bitte die TeilnehmerInnen sich die Hand zu geben, was sie in der Regel ohne Probleme tun.
3. Schritt: Zum Schluss bitte ich die TeilnehmerInnen, sich mit einem Wangenkuss zu begrüßen. Hier reagieren die TeilnehmerInnen sehr unterschiedlich. Einige verweigern diesen Teil der Übung.
3. Auswertung, aber keine Wertung
Diese Übung habe ich bereits mit verschiedenen Gruppen durchgeführt, z.B. mit PflegerInnen, ErzieherInnen, LehrerInnen und FlüchtlingshelferInnen.
Der erste und zweite Schritt war für die TeilnehmerInnen unproblematisch.
Beim dritten Schritt kam es jedoch vor, dass bei der Mann-Mann-Konstellation und bei der Mann-Frau-Konstellation der Wangenkuss verweigert wurde. Dafür hatten die TeilnehmerInnen verschiedene Erklärungen von „ungewohnt“, „unangenehm“, „zu intim“ bis „ich kann es nicht erklären“.
Ich werte diese verschiedenen Begrüßungskulturen nicht als gut oder schlecht, besser oder schlechter oder als richtig oder falsch, denn für jeden ist seine Begrüßungskultur gut und richtig, ohne dass die Kultur des anderen automatisch schlecht oder falsch sein muss.
Zum Selbstbestimmungsrecht eines jeden Individuums gehört auch, dass jeder selbst bestimmen darf, wen er wie nah an sich heranlassen möchte bzw. von wem er berührt werden möchte und von wem nicht. Umgekehrt hat niemand das Recht, andere, ohne deren Erlaubnis, zu berühren.
4. Nähe und Distanz
– Welche Erkenntnis gewinnen wir aus dieser Übung (Erfahrung)?
Im Grunde geht es bei dieser Übung um eine Erfahrung von Nähe und Distanz. Zu Menschen, denen wir sehr nahe stehen (z.B. unseren Partnern, Kindern, Eltern, Geschwistern oder sehr guten Freunden), pflegen wir auch eine engere körperliche Nähe (berühren, umarmen, küssen), als zu Menschen, denen wir nicht nahe sehr stehen, wie z.B. zu Freunden, zu denen wir keine engen Kontakte pflegen, zu LehrerInnen, zu ArbeitskollegInnen etc.
Die Distanz ist am allergrößten zu fremden Menschen.
In Gesprächssituationen halten wir einen unsichtbaren Abstand von einer Armlänge zueinander. Nase an Nase wäre zu intim, aber wir stehen auch nicht 5 Meter voneinander entfernt. Würde einer der Gesprächspartner einen halben Schritt zu nahe kommen, würde der andere automatisch einen halben Schritt zurück gehen, um wieder den nötigen Abstand herzustellen. Auch dies läuft nach einem gesellschaftlichen Code, nachdem wir funktionieren.
5. Ergebnis und Erkenntnisse
In allen bisherigen Übungen und gemeinsamen Auswertungen kamen die TeilnehmerInnen zu dem Schluss: Jeder von uns definiert Grenzen und niemand möchte, dass der andere seine Grenzen überschreitet. Aufgrund unterschiedlicher Begrüßungskulturen (Codes) kann die Definition von Grenzen jedoch unterschiedlich sein. Was für den einen normal ist (wie z.B. das Geben der Hand oder der Wangenkuss), kann jedoch für den anderen bereits eine Grenzüberschreitung sein. Wer möchte, dass seine Grenzen respektiert werden, sollte auch Verständnis dafür haben, dass das Gegenüber den selben Wunsch hat; nämlich seine Grenzen zu respektieren, auch wenn beide ihre Grenzen unterschiedlich definieren sollten.
Im Grunde geht es also nicht um die jeweilige (richtige) Begrüßung, sondern um den Respekt vor den Grenzen des anderen. Mit anderen Worten: Wer möchte, dass man seine Grenzen respektiert, sollte auch die Grenzen anderer respektieren.
6. Nachsatz
Da Gesellschaften im Wandel sind, unter anderem durch den Einfluss verschiedener Kulturen, und dabei Medien auch eine große Rolle spielen, sollte nicht aus dem Blick geraten, dass vor allem in verschiedenen Szenen und Jugendkulturen, immer neue Begrüßungsrituale entstehen. „Typisch deutsch“ kann sich eben von Generation zu Generation und von Milieu zu Milieu bzw. Szene zu Szene ändern. Sofern sich diese Kulturen in engeren Kreisen bewegen (Szenen- oder Generationsbedingt) und neue Codes hervorbringen, die von allen Betroffenen als Gewohnheit übernommen werden, müssen keine Konflikte befürchtet werden. Bewegt man sich jedoch zwischen den Szenen, Generationen und Kulturen, muss man sich immer auf neue Situationen einstellen, die auch als unangenehm empfunden werden können. Dies erfordert eine gewisse Toleranzgrenze, denn das „Fehlverhalten“ des Anderen aus meiner Perspektive muss nicht von bösen Absichten begleitet sein, so dass ich meinem Gegenüber nicht jedes Mal eine böse Absicht und Respektlosigkeit unterstellen muss, sondern dies als unsensibel verstehen kann. „Fettnäpfchen“ wird es immer geben, da Zivilisation eine große Herausforderung ist.