1. Wann und wen dürfen Muslime wählen?
Eine der wichtigsten Fragen, die sich Muslime heutzutage stellen, ist die Frage nach der Legitimität von Wahlen im Islam.
Prinzipiell kann diese Frage mit „Ja“ beantwortet werden.
Ein populäres Beispiel für die Legitimität von Wahlen ist die Wahl des 1. Kalifen Abu Bakr (632-634). Aus diesem Beispiel geht auch hervor, dass es Muslime gab, die mit der Wahl nicht zufrieden waren, weil sie einen anderen Kandidaten, nämlich Ali ibn Abi Tâlib, favorisierten. Der 2. Kalif Umar (634-644) hatte wiederum ein Gremium einberufen, das nach seinem Tod den dritten Kalifen Uthman (644-656) wählte. Aus beiden Beispielen geht hervor, dass Muslime prinzipiell einen politischen Führer wählen dürfen und diese Wahl noch nicht einmal auf Konsens beruhen muss, zumal auch an der Wahl des 1. Kalifen nicht alle Muslime beteiligt waren.
2. Wenn Muslime Nichtmuslime wählen
Das Problem bei dieser Frage ist aber nicht wirklich die Wahl eines Muslims durch Muslime, sondern die Frage, ob Muslime auch Nichtmuslimen ihre Stimme geben dürfen, und zwar in einem System, indem weder Muslime herrschen noch die islamischen Gesetze gelten.
Demnach hat das Thema unterschiedliche Dimensionen. Wenn man dem Thema wirklich gerecht sein will, lässt sich diese Frage nicht mit wenigen Sätzen klären. Recherchen zum Thema ergeben jedoch, dass viele Vertreter von Pro- und Kontrapositionen entweder ein prinzipielles Verbot vertreten oder einfach zu Wahlen aufrufen und jegliche Kontroverse vermeiden, wobei selbst die Äußerungen von Gelehrten zu Entrüstungen im Netz führen, wenn diese z.B. Wahlen prinzipiell oder unter gewissen Umständen legitimieren.
3. Historischer Rückblick
Gegen Ende des Osmanischen Reiches wurden Muslime mit dem europäischen Kolonialismus konfrontiert und im Zuge dessen auch mit unterschiedlichen politischen Ideologien und Systemen wie Nationalismus, Sozialismus, Liberalismus, Laizismus, Säkularismus, Kommunismus, Faschismus oder Demokratie. Muslime selbst kannten als Regierungsformen das Kalifat sowie Monarchien wie Sultanate und Emirate. Nach dem Ende des Kalifats 1924 haben sich einige Ideologen mit der Frage beschäftigt, was man dem europäischen Kolonialismus politisch entgegensetzen könne. Erprobt wurden vor allem der arabische Nationalismus und Sozialismus, die jedoch beide gescheitert sind. Im Zuge der Entkolonialisierung wurden jedoch in vielen muslimisch bevölkerten Ländern laizistische Regierungsformen eingeführt, die den Eliten die politische und wirtschaftliche Macht sowie die Kontrolle über die Religion garantierten. Einen Säkularismus nach deutschem Modell, hat es nicht gegeben.
4. Wahlen in muslimischen Ländern
Selbst die Frage, ob man in der Türkei wählen darf, ist für einige Muslime problematisch. Da könnte man denken, die Türkei ist islamisch aufgrund der mehrheitlich muslimischen Bevölkerung (so zumindest die Definition von Rechtsgelehrten, für die ein Land islamisch ist, wenn in ihm mehrheitlich Muslime leben, selbst wenn die Regierung nicht-muslimisch sein sollte (siehe z.B. Andalusien oder Jerusalem, die unter nicht-muslimische Herrschaft geraten waren)). Die Gelehrten der hanafitischen Rechtsschule, der immerhin über 50% aller Muslime weltweit angehören, machten die Sicherheit und die Religionsfreiheit zum zentralen Kriterium für den Aufenthalt von Muslimen in nicht-muslimischen Ländern.
5. Drei Arten von Maslaha
Manchmal kann etwas, was verboten ist, geboten sein, wie z.B. die Lüge, wenn man mit ihr ein Leben retten kann. Manchmal kann etwas, in einem Kontext verboten und in einem anderen Kontext erlaubt sein, wie Alkohol in der Medizin. So, wie es im Islam Grundsätze gibt, gibt es auch Ausnahmen. Da der Islam keine dogmatische Religion ist, haben die Gelehrten zur Lösung von Fragen im Sinne des Allgemeinwohls Kriterien aufgestellt. Dazu gehören z.B. die drei Arten des Allgemeinwohls (arab. maslaha):
1. das unerlässlich Notwendige,
2. das Erforderliche oder das Ergänzende und
3. das Zusätzliche.
Zu dem unerlässlich Notwendigen gehören die Maqâsid asch-Scharia. Zu dem Erforderlichen oder Ergänzenden gehört der Schutz vor dem, was eine Quelle von Schwierigkeiten im Leben der Gemeinschaft sein könnte, ohne jedoch zum Tod oder zur Zerstörung zu führen. Zu dem Zusätzlichen gehört alles, was zu einer Vervollkommnung des Gottesdienstes beiträgt.
Wenn sich die Maslaha auf einen Hinweis aus dem Text (Koran oder Sunna) stützt und ihre Gültigkeit nicht zur Diskussion steht, gilt diese als anerkannt.
Wenn die Maslaha im Widerspruch zu einem unbezweifelbaren Text (nass qat’i) steht und damit nicht in Betracht kommt, gilt sie als ungültig.
Wenn es keinen Text gibt (der Koran und die Sunna bestätigen nicht die Maslaha, welche nach der Zeit der Offenbarung aufgetreten ist, schließen sie aber auch nicht aus), gilt sie als unbestimmt.
Angesichts neuer Situationen und Fragestellungen, müssen Gelehrte, wenn sie keine Antwort in Koran und Sunna finden können, Regelungen finden, welche die Interessen und das Wohl der Menschen berücksichtigen. Diese Interessen oder dieses Wohl wird „masâlih mursala“ genannt und ermöglicht, zu allen Zeiten und allen Orten, als Muslime zu leben und ihnen eine zu große Last zu ersparen.
Während für die Gegner von Wahlen aus der Interpretation einiger Quellen ein Verbot ableiten lässt, gehen die Befürworter exakt mit derselben Methode vor und versuchen ebenfalls aus den Quellen heraus eine Erlaubnis abzuleiten (siehe Hinweise zum Schura-Prinzip). Bei nicht eindeutig geklärten Fragen, ein absolutes Urteil zu fällen (etwas als eindeutig harâm oder halâl zu erklären), ist allerdings immer grenzwertig, da das absolute Urteil bei Gott alleine liegt. Daher gehen die Vertreter der dritten Position davon aus, da diese Frage nicht eindeutig durch die Quellen verboten oder erlaubt ist und dass das Urteil über sie daher in den Bereich des Unbestimmten fällt und im Sinne von „masâlih mursala“ zu klären wäre.
6. Erdoğan und die AKP: Islamistisch, islamisch oder unislamisch?
Verständlich wird diese Kontroverse vielleicht auch durch folgendes Beispiel: Hiesige Medien und Politiker bezeichnen den türkischen Präsidenten R. T. Erdoğan und die AKP nicht selten als „islamistisch“. Viele Wähler von Erdoğan und der AKP sehen ihn und seine Partei jedoch als „islamisch“ an. Einige Muslime hingegen bezeichnen Erdoğan als „Tâgût“ und akzeptieren eine Partei wie die AKP nicht, weil ein politisches System nach demokratischem Modell für sie per se unislamisch ist. Eine von vielen Definitionen von Tâgût wäre ein Mensch, der sich gegen Gott auflehnt, sich selbst zu Gott erklärt und von den Menschen angebetet wird (so z.B. die Erklärung des Exegeten at-Tabari, gest. 923).
Das populäre Hauptargument der Gegner, nämlich die Anwendung des Koransverses: „Wer nicht nach dem richtet, was Allah herabgesandt hat…“ (siehe Sure 5, Verse 44-47), wurde ursprünglich auch von den Khawâridj (den Mördern des Kalifen Ali) als Parole gegen den Kalifen angewendet, um seine Ermordung religiös zu legitimieren. Heute wird derselbe Vers ideologisch gegen muslimische Regierungen angewendet. Die religiöse (nicht-ideologische) Bedeutung dieses Verses hatte ich bereits in einem früheren Beitrag erläutert (https://www.facebook.com/alioezdil/posts/701193143388337). Für religiös orientierte Muslime wäre es sinnvoll, auch die Meinung muslimischer Gelehrter wie von Imâm Mâturîdî (893-941) und dem Exegeten al-Qurtubî (1214-1272) zu lesen.
7. Muslime, die sich nicht zur Wahl stellen und nicht wählen, sind keine Gefahr für die Demokratie
Selbst wenn sich Muslime mit einer islamischen Partei zur Wahl stellen würden, gebe es auf muslimischer Seite Gegner, die sagen würden: „Das demokratische Wahlsystem ist unislamisch und Muslime dürfen nicht an einem solchen System teilhaben.“
Islamgegner (in Deutschland wie in der Türkei) wiederum befürchten durch die politische Partizipation von Muslimen die Unterwanderung des Systems. Die Demokratie bietet ihren Gegnern sozusagen die Möglichkeit, sie abzuschaffen. Diese Angst wird hierzulande auch in Bezug auf die AfD geäußert.
Diese Islamgegner müssten aber die Gegner der Demokratie unter Muslimen gar nicht fürchten, weil diese – selbst wenn man ihnen das Recht und die Möglichkeit für politische Partizipation geben sollte – sich weder zur Wahl stellen noch an Wahlen teilnehmen würden. Muslime, die sich nicht zur Wahl stellen und nicht wählen, wären somit keine Gefahr für ein demokratisches System.
8. Was, wenn Muslime Wahlen boykottieren?
Es gibt Muslime, die dazu aufrufen, auch in islamischen Ländern die Wahlen zu boykottieren. Sollten Muslime tatsächlich diesem Boykott einmal nachkommen, wäre die Konsequenz, dass trotzdem gewählt wird, und zwar durch die nicht-muslimische Minderheit im Lande und Muslime dadurch durch eine Minderheitenregierung regiert werden. Der amerikanische Präsident Donald Trump kam z.B. auch mit 26,4 Prozent der Wahlberechtigten an die Macht. Wer also glaubt, das System allein durch Nichtwählen zu ändern, irrt sich nicht nur, sondern hilft auch seinen politischen Gegnern leichter an die Macht zu kommen bzw. an der Macht zu bleiben.
9. Wahlen in nicht-muslimischen Ländern
Konzentrieren wir uns nun auf die Frage, ob Muslime in Deutschland wählen dürfen.
Dazu gibt es drei Positionen:
1. Wählen ist verboten (harâm).
2. Wählen ist erlaubt (oder sogar verpflichtend).
3. Die Frage ist in den Quellen nicht eindeutig geklärt und sollte von Fall zu Fall entschieden werden und ist somit eine Frage des Idjtihâd.
Zu dieser Frage haben sich bereits sowohl Gelehrte als auch Gelehrtenkommissionen geäußert. Darunter sind unter anderem der ehem. Scheich ul-Azhar Gad al-Haqq (gest. 1996), Yusuf al-Qaradawi oder Scheich Muhammad Salih Al-Munajjid. Grundsätzlich ist zu betonen, das im Islam von einem Gelehrten erwartet wird, die Gesellschaft und die Umstände zu kennen, über die er urteilt.
Gäbe es ein eindeutiges Verbot in Koran und/oder in der Sunna oder einen Konsens der Gelehrten, dann könnten die Vertreter eines Verbots auf diese Quellen verweisen und müssten sich nicht mit Beispielen und Umschreibungen bemühen, ihre Position dazulegen. Die Befürworter des Verbots gehen gelegentlich noch einen Schritt weiter und erklären das Wählen nicht nur für harâm (verboten), sondern für kufr (Abfall vom Glauben) oder schirk (Vielgötterei), womit muslimische Wähler nicht nur eine Sünde begehen, sondern vom Islam ausgeschlossen werden würden. Dieses Verbot basiert jedoch weder auf Konsens der Gelehrten, noch spiegelt es die Meinung der Mehrheit der Gelehrten wider.
Diese Information ist vor allem für jene wichtig, die unsicher und unentschlossen sind und sich deshalb eher dazu entschließen, bei Zweifel die Handlung zu meiden, was durchaus islamisch legitim wäre.
Einige Vertreter der zweiten Position (erlaubt) gehen hingegen so weit, dass sie es als eine Pflicht für die Muslime erachten, zu wählen.
Man kann den Vertretern aller drei Positionen reine Absichten unterstellen und dass sie den Muslimen nur das Beste wünschen gemäß dem Prinzip der Maslaha, wie oben im 5. Punkt angeschnitten wurde.
Eine unflexible und rigorose Positionierung, ohne Abwägung aller Pro- und Kontra-Argumente und ohne die Berücksichtigung der jeweiligen Umstände, in denen sich Muslime von Zeit zu Zeit und von Ort zu Ort befinden, ist weder hilfreich noch zukunftsweisend. Sie ist vielmehr Problem- und weniger Lösungsorientiert. Auch der Prophet ﷺ hatte bei einer obligatorischen Handlung, wie der Pilgerfahrt, die die Mekkaner verhinderten, nicht rigoros auf seiner Position verharrt oder hatte sich beim Vertrag von Hudaibiya (628) auf einen Kompromiss eingelassen, mit dem selbst einige seiner Gefährten nicht einverstanden waren.
Selbst wenn man die Position jener befürworten sollte, die von einem Verbot ausgehen, muss die Frage möglich sein, ob unter den gegenwärtigen Umständen Wählen das kleinere Übel wäre, als eine Enthaltung, die im Grunde auch eine Wahl ist. Oder anders ausgedrückt: Wer sich enthält, hat die Ergebnisse mit zu verantworten.
10. Das kleinere Übel
Im Islam ist es erlaubt, bei zwei Übeln, das geringere Übel zu wählen. Als Beispiel dient die Geschichte von Moses und dem Weisen in Sure 18, Verse 65-82. Der weise Mann vollzieht drei Handlungen, die in den Augen Mose eindeutige Vergehen sind, wofür er ihn auch jedes Mal kritisiert. Am Ende erklärt der Weise ihm die Gründe für sein Handeln. Wir wollen uns nur auf das erste Beispiel konzentrieren: Der Mann schlägt ein Loch in das Schiff, mit dem sie reisen. Das Schiff droht zu sinken, weshalb sie stranden und das Schiff reparieren müssen. Die Handlung ist eindeutig eine schlechte, sie sollte jedoch einen Überfall verhindern, der stattgefunden hätte, wenn sie weitergefahren wären. Ein Loch in das Schiff zu schlagen, war demnach das geringere Übel. Deshalb empfehlen die Befürworter von Wahlen, auch wenn keine Partei in Deutschland den Vorstellungen von Muslimen entsprechen sollte, das geringere Übel zu wählen. Dies ist, nebenbei bemerkt, sicher eine Frage, mit der sich auch viele Nichtmuslime quälen.
Einige türkische Quellen zum Thema:
https://sorularlaislamiyet.com/secimlerde-oy-kullanmanin-hukmu-nedir-nelere-dikkat-etmemiz-gerekir-secimlerde-kullandigimiz
http://www.sahihhadisler.com/yazdir.asp?id=4146
https://www.fetvameclisi.com/oy-kullanmak
Auch die eher abstrakten Antworten der Parteien zum Islam auf dem muslimischen Wahlkompass konnten mich nicht überzeugen: http://deutsch-muslimischer-wahlkompass.de/wp-content/uploads/2015/05/Druckversion_Deutsch-Muslimischer-Wahlkompass_2017_DML_IZ_ZMD.pdf
Es gibt auch einen „muslimischen“ Wahl-O-Mat, der einiges zum Lachen bietet.
Siehe hier: https://noktara.de/muslimischer-wahl-o-mat-bundestagswahl/ (Achtung: Satire!)