Die Definition von Wasatiyya
– Wie wird im Islam „die Mitte“ (al-Wasatiyya) in Anlehnung an Sure 2:143: „…Und so machten Wir euch zu einer Gemeinschaft der Mitte…“ definiert?
„Wasat(an)“ ist wörtlich der Mittelweg zwischen Übertreibung und Fahrlässigkeit. Diese Mitte befindet sich zwischen zwei Extremen. Diese beiden Extreme können wiedergegeben werden als „das Maß unterstreitende Extrem“ (UnterEx) und als „das Maß überschreitende Extrem“ (ÜberEx).
Beispiele:
UnterEx = Unterwürfigkeit bzw. Hinnahme von Unrecht und Leid.
Die Mitte = Gerechtigkeit.
ÜberEx = Tyrannei bzw. Begehen von Unrecht.
UnterEx = Feigheit.
Die Mitte = Edel- und Großmut.
ÜberEx = Tollkühnheit, Prahlerei
UnterEx = Geiz.
Die Mitte = Freigebigkeit.
ÜberEx = Verschwendung.
UnterEx = Zügellosigkeit (Exzess).
Die Mitte = Mäßigkeit.
ÜberEx = Übertriebene Askese.
UnterEx = Reine Diesseitsbezogenheit.
Die Mitte = „Strebe mit dem, was Allah dir gegeben hat, nach der Behausung des Jenseits, aber vergiss nicht deinen Anteil am Diesseits!“ (Sure 28:77)
ÜberEx = Reine Jenseitsbezogenheit.
Das islamische Grundprinzip der Wasatiyya (الوسطية) ist das Gegenmittel gegen alle Formen von Extremismus (tatarruf/ التطرف), Härte (tanattu/تنطع), Gewalt (schidda/شدة) und Übertreibung (ghuluw/ ﻏﻠﻮ) in der Religion (siehe zu dem „Extremismus-Begriff“ einen anderen Beitrag von mir unter: http://blog.alioezdil.de/2017/05/14/der-extremismus-begriff-in-der-arabischen-sprache-und-im-islam/).
Der Exeget Ibn Kathîr (1300-1373) sagt in seinem Kommentar zu dem Vers 2:143: „Wasata“ bezieht sich hier auf das Beste und am meisten Ausgezeichnete, (ähnlich) wie über die Quraish gesagt wurde:هم أوسط العرب نسباً وداراً , d.h. „die Quraish sind die besten der Araber in Abstammung und Besitz“, und der Gesandte Gottes (Friede sei mit ihm) wurde als وَسَطًا فِي قَوْمه , d.h. „der Beste seines Volkes“ bezeichnet.
Und الصَّلَاة الْوُسْطَى bedeutet „das beste Gebet“ (nämlich das ‚Asr Gebet), wie es in den Sahih-Büchern erwähnt wird.
Charles le Gai Eaton (auch Hasan le Gai Eaton oder Hassan Abdul Hakeem, 1921-2010) setzt den Begriff mit dem Islam gleich und sagt: „Islam is … »a community of the middle way« (Qur’an 2:143). The ummatan wasatan represents … »a connecting link and a centre of gravity« in the midst of a world polarized between East and West, and North and South.“
Al-Ghazzālī teilt die Nafs (das Ego) in zwei Teile auf: 1. Exzessiv (maßlos) und 2. Moderat (bescheiden):
Exzessives Verlangen:
Wenn niedriges Verlangen exzessiv ist, bringt es folgende Eigenschaften hervor:
Begierde bzw. Lustgefühl (šahwa/شهوة),
Habgier/Geiz (hirs/حرص),
Erwartung (‚amal/),
Schändlichkeit (ḫissa/),
Niedertracht bzw. Gemeinheit (arab. qanā’a/),
Gier (huḫl/),
Feigheit (arab. ǧubn/),
Lästern (ġība/)
und Verleumdung (buhtan/).
Moderat:
Andernfalls, wenn die Eigenschaft des niedrigen Verlangens erfolgreich moderat wurde, erscheinen viele lobenswerte Charaktereigenschaften in der Nafs, wie zum Beispiel:
Bescheidenheit bzw. Sittsamkeit (ǧūd/جود),
Großzügigkeit (saḫawa/سحاوة),
Liebe (mahabba/محبة),
Mitleid bzw. Mitgefühl (šafqa/شفقة),
Respekt (takrīm/تكريم)
und Geduld (sabr/صبر).
Exzessiv:
Wenn Ärger exzessiv ist, wird es
Arroganz (takabbur/تكبر),
Feindschaft, Zwiespalt (adāwa/عداوة),
Wut, Zorn (hidda/حدة),
Eitelkeit (‚uǧb/عجب),
Stolz (faḫr/فخر),
Einbildung (ḫiyâl/ خيال)
und Lüge (kaḏb/كذب) zeigen.
Moderat:
Wenn der Ärger moderat wird, dann erscheinen lobenswerte Charaktereigenschaften in der Nafs, wie zum Beispiel
Demut (tawaddu’/ تواضع),
Nachsicht, Güte (hilm/حلم),
Ehre (muruwwah/مروة),
Zufriedenheit (qanā’a/قناعة),
Mut (šaǧā’a/شجاعة),
Großzügigkeit (badl/بدل)
und Hingabe bzw. Aufopferung (ithâr/ايثار).
Für die exzessive Phase betont Al-Ghazzālī, dass der Mensch seine Nafs bereinigen soll, bis er diese individuelle Art der Moderation erzielt, die er „das Gleichgewicht“ (arab. i’itidāl/اعتدال) nennt.
Vgl. Dr. Mukhtar Solihin: Psychology and Islam: Ghazali’s Tazkiyat Al-Nafs & Its Relation with Individual’s Development & Mental Health, unter: http://spychology-of-islam.blogspot.de/…/ghazali-tazkiyat-a… ).