Warum radikalisieren sich Jugendliche?
Wenn wir Jugendliche sagen, meinen wir nicht explizit Muslime. Schließlich haben wir es hierzulande vor allem mit Rechts- und Linksextremismus (und im europäischen Ausmaß mit separatistischen Gruppen) zu tun. Radikal und extremistisch sein, ist auch nicht dasselbe. Während radikale Kritik – etwa gegen Kapitalismus – nicht strafbar ist, wird Extremismus, der sich gegen die gesellschaftliche Grundordnung richtet, d.h. diese ablehnt oder bekämpft, als gefährlich eingestuft.
Wenn wir nun „Jugendliche“ sagen, dann liefert uns die gegenwärtige Jugendforschung Hinweise zum Unterschied zwischen der Generation X, Y und Z (siehe dazu z.B.: „Wie tickt die junge Generation?“ von Klaus Hurrelmann (2012); „Wie tickt die Jugend?“ von der KAS (2014) oder die neue SINUS-Jugendstudie „Wie ticken Jugendliche 2016?“).
Die untersuchten Jugendlichen werden dabei in vier Kategorien unterteilt: Resigniert und unauffällig (Shell Jugend Studie, 20%); Erfolglos und robust (20%); Selbstbewusste Macherinnen und Macher (30-35%) und pragmatisch und idealistisch (überwiegend weiblich, 25-30%).
Typisch für Jugend(phasen) Spezifika (unabhängig von Herkunft und Religion) sind:
– Sinn- und Orientierungssuche
– (provokative) Abgrenzung von Elterngeneration
– Abenteuerlust; Grenzerfahrungen
– Idealismus; Interesse am Engagement
Der Anthropologe Werner Schiffauer unterteilt muslimische Jugendliche wiederum in drei Typen:
• Typ A betont das Gleich-Sein-Wollen
• Typ B betont das Gleich- und Anders-Sein-Wollen
• Typ C betont nur Anders-Sein-Wollen
(Siehe dazu meinen Beitrag unter: http://blog.alioezdil.de/2017/04/14/welcher-muslim-typ-bist-du/).
Bei radikalisierten Jugendlichen wiederum spricht man von vier Sucher-Typen:
1. Rache Sucher
2. Identitätssucher
3. Status Sucher
4. Abenteuer (‘Thrill’) Sucher
„Radikalismus“ lässt sich definieren als die Ausbildung kontrakultureller Einstellungen (gegen die gesellschaftliche Mitte).
Allerdings ist der Begriff „Radikalisierung“ für die Annäherung an Jugendliche inadäquat. Es ist besser von Hinwendungs- oder Einstiegsfaktoren zu sprechen. „Ideologie“ ist im Einstieg häufig nachrangig.
Formen individueller Radikalisierung nach Clark McCauley und Sophia Moskalenko wären (siehe: McCauley, C., & Moskalenko, S. (2008). Mechanisms of political radicalization: Pathways toward terrorism. Terrorism and Political Violence, 20, S. 405-433):
1. Persönliche Unrechtserfahrung
2. Politische Missstände
3. Sozialisation („The Slippery Slope“): Durchlaufen eines Reifeprozesses (Beispiel: 1. unwichtige Nachrichten überbringen und Wache schieben, 2. Waffen ausliefern, 3. Ranghohe Gruppenmitglieder zu geheimen Treffen fahren = Erprobungs- und Gewöhnungsprozess).
4. Radikalisierung aus Zuneigung („The Power of Love“): Z.B. Verehrung eines Mitglieds oder eines Führers.
5. Anerkennung und Abenteuer (geheime Gesellschaft, Nervenkitzel, Geld, Ruhm, Umgang mit der Waffe usw.).
6. „Unfreezing“: Für viele Menschen ist der Weg zur Radikalisierung von früher eingegangenen Verpflichtungen und Verantwortlichkeiten blockiert. Brechen diese zusammen (z.B. durch einen Krieg), braucht der Mensch neue Bindungen.
7. Soziale Isolation und Entfremdung.
Es ist auch die Rede von Stufen der Radikalisierung (David Des Roches), wobei diese nicht immer zutreffen müssen, denn es gibt nicht „die eine“ Radikalisierungskarriere, sondern sehr viele unterschiedliche Wege:
1. Prä-Radikalisation
2. Identifikation (z.B. mit einer Idee, einem Ziel, einer Gruppe)
3. Indoktrination (mit einer ständigen Fütterung)
4. Aktion!
Siehe zu den Stufen der Radikalisierung (Entwicklungslehren) auch: Lewis R. Rambo (1993): Understanding Religious Conversion.
Beim Vergleich zwischen rechtsradikalen Jugendlichen und radikalisierten muslimischen Jugendlichen fallen folgende Gründe besonders auf:
a) Desintegrationserfahrungen wie Ausgrenzung, Mobbing, doppelte Wurzellosigkeit usw. sowie
b) Krisenerfahrungen wie Scheidung der Eltern, Tod einer nahestehenden Person usw.
Die Bedeutung sozialer Kontexte sollte nicht unterschätz werden: Gemeinschaft (Brüderlichkeit) ist bei beiden sehr stark ausgeprägt. Die Gemeinschaft und die Gruppe sind wichtig. Rekrutierung auch durch soziale Netzwerke. Durch Gruppendynamiken kann (muss nicht) sich Radikalisierung ergeben.
Des Weiteren spricht man in der Sozialforschung von Mechanismen:
1. Beispiele für Mechanismen zwischen sozialen Gruppen:
– Konkurrenz zwischen radikalen Gruppen.
– Stigmatisierung oder Wahrnehmung von Bedrohung können auch Mechanismen in Gang setzen (z.B. in dem sie sich zurück ziehen, ihr Bewusstsein vertiefen und noch geschlossener handeln).
– Self fulfilling prophecy durch (z.B. staatlichen) Verfolgungsdruck.
– In-Group Out-Group bias: Man glaubt den Gruppenmitgliedern mehr als Außenstehenden.
– Verkürzung der Distanz von Normalität und Abweichung.
2. Intra-Gruppen Mechenismen:
– Foot-in-the-door Mechanismus
– Intra Gruppennormen (u. a. Sanktionen): Gruppendruck
– Lebensweltliche Paradoxien:
a) Vertrauen/Misstrauen bzw. Loyalitätsbeweis/Verdacht
b) Purifizierung (Reinigung): Je mehr man sich damit beschäftigt, umso mehr „Schmutz“ wird wahrgenommen. D.h., je mehr Jugendliche sich der Religion zuwenden, umso stärker könnten sie ihr familiäres, freundschaftliches und gesellschaftliches Umfeld als nicht-islamisch wahrnehmen (=Takfir-Gefahr). Das kann z.B. auf Konvertiten und auf Jugendliche aus säkularen muslimischen Familien zutreffen, in denen der Islam nicht praktiziert wird.
Zusätzlich zur mechanismischen Forschungsperspektive gibt es noch die instrumentelle Forschungsperspektive. Sie regt dazu an, dass man impliziten Kalkulationen folgt. Ziel: Wie kann man diese Kalkulation durchbrechen? Die Gefahren zeigen, was passieren kann, wenn man den Mechanismen der Radikalisierung folgt!
Lösungsansätze:
– Bindung zu Jugendlichen aufrecht erhalten.
– Empathie.
– Respekt vor der Religion/dem Glauben der Jugendlichen.
– Das „Wir-Gefühl“ (zur Gesellschaft) stärken.
– Falsche Haltungen kritisieren aber die Person respektieren (fragend wertschätzende Haltung zu den Jugendlichen).
– Alternative Sozialbezüge schaffen. Im Umkehrschluss ist der Ausstieg ohne Alternative zu den vorhandenen Sozialbezügen schwer!
– Unrecht nicht ignorieren, aber lernen (zeigen) damit umzugehen.
– Gelebter Islam in der Familie.