Mein Freund Waldemar
„Wie bereitest Du Dich auf Deine Vorträge vor?“, wurde ich des Öfteren gefragt.
Wer mich kennt, wird wissen, dass ich nicht seitenlang ablese, sondern frei rede. Blöd ist nur, wenn jemand einen Vortrag (oder eine Khutba) schriftlich haben will. In der Regel besteht das schriftliche Material aus Spiegelstrichen mit Halbsätzen.
Hier ein Beispiel z.B. für meinen Vortrag „Wie verstehst Du den Qur´an?“
– Qur´an-Gedicht von ar-Rumi…
– Worüber reden wir, wenn wir „Qur´an“ sagen?
a) In der Zeit des Propheten (alaihis selam)…
b) Heute…
– Wie gehen wir mit dem Qur´an um?
Beispiel 1: Karikatur mit Kind…
Beispiel 2: Munib Engin Noyan: „Der verschollene Qur´anvers…“
Beispiel 3: Ethik Lehrer in Istanbul…
– Wie verstehen/deuten wir den Qur´an (tafsīr)?
Beispiel 1: Was bedeutet es z.B., wenn wir sagen, der Qur´an ist Heilung (Schifâ)?
Beispiel 2: Warum fällt Umar (r.a.) in Ohnmacht, als er den Vers 81:10 (وَإِذَا الصُّحُفُ نُشِرَتْ) hört?
Beispiel 3: Abu Bakr (r.a.) weint nach der letzten Offenbarung…
Beispiel 4: Der 9 jährige Sohn eines Scheichs erblasst…
Beispiel 5: Was tat Ibn Mas‘ud (r.a.), als er vom Tod seines Sohnes erfuhr?
Wie bereite ich mich nun vor?
Ich sitze „alleine“ und denke nach. Ich denke vor dem Schlafengehen nach, ich denke beim Essen nach, ich denke während der Bahn- oder Autofahrt und vor allem an jedem „stillen Örtchen“ nach. Bin dabei aber nie alleine. Ich diskutiere mit jemandem, manchmal eine knappe Stunde. Auf diesen „jemanden“ werde ich gleich weiter unter näher eingehen.
Meine Vorträge gehe ich mindestens einmal von Anfang bis zum Ende durch. Zu allen Punkten stelle ich Fragen aus drei verschiedenen Perspektiven:
1. Aus der Perspektive eines Wissenden,
2. Aus der Perspektive eines Unwissenden und
3. Aus der Perspektive eines böswilligen Provokateurs.
Da ich selbst Fragen zu meinem Vortrag stelle, bin ich auch über viele Fragen, die später gestellt werden, nicht überrascht. Zu jeder Frage überlege ich eine zweite (alternative) Antwort. „Was könnte jemand sagen, fragen oder kritisieren, wenn ich dieses oder jenes sage?“, frage ich mich und meine innere Stimme gibt mir darauf mehrere Antworten. Dann versuche ich mindestens drei Beispiele dazu vorzubereiten, da nicht jeder alles nach nur einem Beispiel versteht.
Zum Beispiel gibt es Themen, die man sehr oft behandelt, wie etwa „Die Frau im Islam“. Dazu habe ich mehrere Bücher und tausende Artikelseiten gelesen und mehrere hundert Diskussionen geführt (in Moscheeführungen, Dialogverstaltungen etc.). Nenne mich daher gerne „Frauenrechtler“. Ernte dabei immer Gelächter, z.B. in Lehrerfortbildungsseminaren. Bin aber bisher keiner Frau begegnet, die sich z.B. mit der Thematik Kopftuch (rechtliche, religiöse, kulturelle, historische, soziale, wirtschaftliche und individuelle Aspekte) so intensiv und umfangreich beschäftigt hat, wie ich. Das alles auch vor allem dank Waldemar.
Ich weiß nicht wann ich begonnen habe, mich mit ihm zu unterhalten, aber es ist schon sehr lange her. So lange, dass ich mich nicht mehr erinnern kann. Irgendwann gab ich ihm diesen Namen. „Waldemar ist unsichtbar“ sage ich, wenn ich von ihm rede.
Täglich spreche ich mit ihm. Mal stimmt er mir zu, mal kritisiert er mich, mal lobt er mich, mal verflucht er mich. Oft versteht er mich, manchmal aber auch nicht. Mit ihm ist es so, als würde man mit einem ebenbürtigen Gegner Schach spieln. Mal gewinnt er, mal ich, mal müssen wir uns mit einem Remis zufrieden geben.
Nein, ein Majnun bin ich nicht. Denn nicht er kontrolliert mich, sondern ich ihn. Er spricht nur, wenn ich ihn frage. Er lässt mich nie allein. Mit den Sinnen ist er aber nicht erfassbar, denn ich „höre“ ihn nicht als fremde Stimme (falls jemand an diesem Punkt glaubt, ich würde Stimmen hören).
Wie oft beschäftigen wir uns eigentlich mit uns selbst und nur mit uns selbst? Wie oft beschäftigen wir uns im Verhältnis dazu mit anderen?
Ich liebe meine innere Stimme. Sie gibt mir so viele Tipps! Ich diskutiere mit ihr über alles! Das Tolle an ihr ist, dass sie weder Grenzen noch Tabus kennt. Sie ist frei mit mir über alles zu reden.
Habt ihr auch einen Waldemar, der mit euch Gedankenspiele durchgeht?
– Woher ich auf den Namen gekommen bin?
Wer, wie ich, zu der Sandmännchen-Generation gehört, wird Waldemar kennen https://www.youtube.com/watch?v=Sn7l36O0i0U