„Ismen“ sind Zentrismen
Liebe Freunde,
wo ist eigentlich der Unterschied zwischen Islam und Islamismus? Oder der Unterschied zwischen Djihâd und Djihadismus und zwischen den Salaf und Salafismus?
Begriffe wie Europa, Kommune oder Ethnie sind auf den ersten Blick keine Reizwörter. Begriffe wie Fundament und sozial sind sogar positiv. Wenn aus Europa jedoch Eurozentr/ismus, aus Kommune Kommun/ismus, Ethnie Ethnozentr/ismus, aus Fundament Fundamental/ismus und aus sozial Sozial/ismus wird, bekommen alle diese Begriffe eine negative bis bedrohliche Bedeutung. Sie alle bezeichnen zwar sehr unterschiedliche Dinge, haben aber alle etwas gemeinsam: den Ismus.
So haben auch Islam, Salaf und Djihâd – zumindest für Muslime – eine rein positive Bedeutung. Sollten aber auch sie mit einem Ismus versehen und zu Islam/ismus, Salaf/ismus oder Djihad/ismus werden, distanzieren sich sogar Muslime eindeutig von diesen Bezeichnungen oder Zuschreibungen.
„Bist Du ein Islamist?“ meint eben nicht dasselbe wie „bist Du ein Muslim?“
Als ich an der Universität Hamburg interkulturelle Pädagogik lehrte, sagte einmal eine meiner Studentinnen: „Ich habe auch eine islamistische Freundin“. Viele muslimische Stundetinnen mussten dann lachen, was die Studentin verwirrte. Schließlich meinte sie es gar nicht böse oder wertend. Sie wusste nur nicht, dass sie „eine muslimische Freundin“ hätte sagen sollen. Auf einer Berufsschullehrerfortbildung in Lübeck sagten zwei Lehrer, dass ihre Schüler „Islamisten“ sagen würden, wenn sie über Muslime sprachen, da sie den Begriff „Muslim“ nicht kannten.
Da das Ganze, worüber ich schreibe, keiner allgemeinen Logik folgt, kann man das natürlich nicht auf alle Begriffe und Themen übertragen: Liberalismus, Buddhismus oder Hinduismus unterliegen keiner so scharfen Wertung, wie die Begriffe, die auf Islam und Muslime bezogen werden. Wir haben es also einerseits mit einem sprachlichen Problem (wann sagt man was?) und mit einem Deutungsproblem zu tun (ist ein Djihadist immer und eindeutig ein gefährlicher, gewaltbereiter Krimineller oder gar ein Terrorist?). Darin liegt auch das Hauptproblem: Komplexe Phänomene werden oftmals vereinfacht wiedergegeben oder eindeutig ausgelegt.
Ein Beispiel zum sprachlichen Problem: Wie nennen wir gefährliche, gewaltbereite (militante) Juden, Christen, Buddhisten oder Hindus? Ein Äquivalent zum Islamismus gibt es nicht.
Judentum – Juden;
Christentum – Christen;
Islamtum – slamen?
Wie nennt man denn nun die anderen?
Beispiel zum Deutungsproblem: Es gibt keine allgemeingültige oder allgemein anerkannte Definition des Begriffs Islamismus. Gemäß einer Definition ist er eine Sammelbezeichnung für alle politischen Auffassungen und Handlungen, die im Namen des Islam, die Errichtung einer allein religiös legitimierten Gesellschafts- und Staatsordnung anstreben. Islamismus gilt als eine Form des Fundamentalismus (darunter versteht man in einem engeren Sinne religiöse Bewegungen, die sich auf eine wortwörtliche Auslegung ihrer „Heiligen Schriften“ beziehen und eine Modernisierung des eigenen Glaubens rigoros ablehnen).
Ähnlich problematisch ist es den Begriff „Salafismus“ zu definieren. Während der Verfassungsschutz zwischen puristischem, Mainstream- und djihadistischem Salafismus unterscheidet, spricht Oliver Roy von „Neo-Fundamentalisten“ (die er in „konservativ“ und „radikal/djihadistisch“ unterteilt), von „Islamismus (die er in „gemäßigt“ und „radikal/djihadistisch/al-Qaida unterteilt) sowie in von liberal konservativ.
Was wiederum meint „djihadistisch“? Da der Begriff „Djihâd“ im Koran und in der Überlieferungsliteratur in verschiedenen Kontexten erwähnt wird, wäre eine eindeutige Definition unsachgemäß. Im Koran selbst gilt Djihâd als „Einsatz für die Sache Gottes“ (siehe 8:72), als „der große Djihâd (mit dem Koran)“ (25:52) und als „(Verteidigungs-)Kampf mit der Waffe“ (61:11).
In der Überlieferungsliteratur gilt das Gebet als der wertvollste Djihâd (siehe Überlieferung von Ibn Mas’ûd bei Buhârî und Muslim, von Abu Qatâda bei Abu Dawud, von Ibn Umar bei Baihâqî oder von Mu’âdh ibn Djabal im Kitâb ul-Djihâd von Ibn Mubarak). Laut weiteren Überlieferungen sind die Pilgerfahrt oder das gerechte Wort gegen den tyrannischen Herrscher ebenso einer der wertvollsten Arten des Djihâd. In anderen Kontexten ist auch die Pflege der Eltern oder das Bekämpfen der eigenen Begierden, eine Form des Djihâd. Ein „Djihadist“, auf Arabisch „Mudjâhid“ ist also laut Quellenlage jemand, der seine Gebete verrichtet, der nach Mekka pilgert, ungerechte Regierungen kritisiert oder sich um seine Eltern kümmert. Reden wir demnach tatsächlich über einen Mudjâhid im koranischen und islamischen Sinne, wenn wir „Djihadist“ sagen, oder über einen militanten Verbrecher (Terroristen)? Wäre demnach nicht „militant“ passender als „djihadistisch?“
Zuletzt sei noch der Begriff „Salafist“ erläutert, bevor wir zu einem Fazit in Bezug auf „Ismen“ kommen. Wenn damit jemand gemeint sein sollte, der die Salaf (die ersten drei Generationen des Islam) zum Vorbild nimmt, dann wären alle Muslime „Salafisten“. Denn zu diesen Generationen gehören der Prophet (Friede sei mit ihm) und seine Gefährten sowie die beiden darauffolgenden Generationen (inklusive Rechtsgelehrte wie Abu Hanifa, dessen Methodenschule die meisten Muslime folgen).
Da wären wir auch schon beim Fazit: Wer den Islam so eng definiert, so dass in seiner Lehre kein Platz ist für Meinungsverschiedenheit und -vielfalt, wer mehrdeutige Verse und Überlieferungen eindeutig auslegt, wer nur einem bestimmten Gelehrten oder einer bestimmten Strömung die alleinige Deutungshoheit des Islam zuspricht und alle anderen von der Wahrheit ausschließt oder als Irrgeleitete oder „Ungläubige“ abstempelt, der macht aus dieser universellen Religion mit all seiner spirituellen, rechtlichen, ethischen, historischen, kulturellen Vielfalt und jenseitigen Dimension, ein „Ismus“ (ein Zentrimus), in dessen Zentrum er alleine sich befindet und alle anderen haben sich an ihm zu orientieren, weil er allein das Maß aller Dinge sei. So macht er aus Islam seinen „Islamismus“.
Ebenso verhält es sich mit dem Salaf/ismus: Wer allein die Zeit der Salaf zum Maßstab seines Islamverständnisses nimmt und alles, was in den folgenden 1400 Jahren danach von Muslimen entwickelt wurde (wie z.B. Rechts- und Exegesemethoden), als belanglos oder für falsch hält (Beispiel: Da der Prophet (Friede sei mit ihm) und die Sahaba keiner Rechtsschule gefolgt sind, sei das Folgen einer Rechtsschule falsch), der macht aus den Salaf ein „Ismus“. Demnach wäre nämlich nur (!) das, was sie getan haben = Islam und alles andere nicht. Dabei ist der Islam nicht auf eine bestimmte Zeit (das 7.-9. Jh.), nicht an einen bestimmten Ort (arab. Halbinsel) oder auf eine bestimmte Kultur (arabisch) begrenzt, sondern universell (d.h. er kann überall und zu jeder Zeit gelebt werden).
Und ebenso verhält es sich mit Djihâd. Wer all die genannten Kontexte von Djihâd missachtet und meint, Djihâd sei nur der Kampf mit der Waffe (zu allen Zeiten und an allen Orten gegen alle Nichtmuslime) und somit diesen Begriff einengt auf kriegerische Auseinandersetzungen und diesen (!) Djihâd zum Mittelpunkt seines Denkens und Handelns macht, der macht auch daraus einen „Ismus“.