Ein Meister der Koranrezitation hat im Volke ein sehr hohes Ansehen, selbst wenn er nicht ein Wort dessen, was er rezitiert, verstehen sollte. Ebenso verhält es sich mit jemandem, der den ganzen Koran auswendig gelernt hat. Diese sind Meister der Narration. Dies könnte man nun auf viele weitere Beispiele übertragen, wie auf jemanden, der sehr viele Ahadith (Überlieferungen) oder Fiqh-Regeln auswendig gelernt hat. Keine dieser zweifelsohne besonderen und lobenswerten Fähigkeiten (Meister der Rezitation oder ein Hafiz usw. zu sein), macht jemandem zum Gelehrten. Zu den Besonderheiten eines Gelehrten gehört auch die Fähigkeit, das Gelernte zu lehren. Man kann also nicht jedem Hafiz sagen: „Hier sind Schüler, bringe auch ihnen den Koran bei!“ Leichter ist dies vielleicht verständlich, wenn man jedem, der Deutsch spricht, sagen würde: „Hier sind Schüler, bringe ihnen Deutsch bei!“ Deutsch können und Deutsch lehren ist nicht dasselbe.
So, wie die Fähigkeit, gut zu predigen, nicht automatisch bedeutet, dass derjenige auch die Fähigkeit haben muss, gut schreiben zu können, so muss ein guter Autor nicht unweigerlich ein guter Redner sein.
Viele Internetprediger, wie sehr sie von ihren Anhängern auch geliebt werden, müssen nicht die Fähigkeit besitzen, über das, was sie predigen, auch ein Buch schreiben zu können. Mit anderen Worten: Es gibt Menschen, die in einem Bereich stark, in einem anderen Bereich schwach sind. Optimal wäre, sowohl quantitatives als auch qualitatives Wissen zu haben und sowohl gut reden als auch gut schreiben zu können. All diese Fähigkeiten sind im Menschen angelegt, aber sehr unterschiedlich ausgeprägt.
„Belehren“ (predigen) und „Lehren“ (unterrichten) ist nicht dasselbe! Prediger, die vor ihrer (rein muslimischen) Gemeinde predigen, haben nicht unbedingt die Fähigkeit, auch vor einem rein nichtmuslimischem Publikum zu sprechen. Sich auf die Zuhörer einstellen, ist jedoch eine wichtige Voraussetzung für Gelehrsamkeit. Die Gesellschaft zu kennen, in der man lebt, eine weitere wichtige Voraussetzung! Wie will man sonst auf die Fragen der Zeit eingehen?
Für viele Jugendliche ist ein guter Redner bereits ein „Gelehrter“, selbst wenn er weder ein abgeschlossenes Studium, noch ein besonderes Werk vorweisen kann. Eine gute Rhetorik ist eben wirksam, kann aber auch gefährlich sein (Demagogen sind nämlich auch Meister der Rhetorik).
‘Abdullah Ibn Amr Ibn Al ‘Âs (r.a.) sagte: „Ich hörte den Gesandten Allahs ﷺ folgendes sagen: „Wahrlich, Allah nimmt das Wissen nicht hinweg, indem Er es aus dem Gedächtnis der Menschen herausreißt, sondern Er nimmt das Wissen hinweg, indem Er die Gelehrten sterben lässt; und wenn keiner von ihnen übrig bleibt, dann nehmen die Menschen unwissende Köpfe in Anspruch, welche gefragt werden und ein Urteil abgeben, bei dem jegliche Grundlage des Wissens fehlt. Somit werden sie selbst abirren, aber auch die Menschen in die Irre führen.“ (Überliefert bei Buhari)
Wie aber unterscheidet man einen Gelehrten von einem Laien? Das ist für muslimische Jugendliche, die auf YouTube unterwegs sind oder für nichtmuslimischen Talkshow-Fans, eine große Herausforderung. Im türkischen Raum kennt man z.B. die YouTube-Prediger Muhammed Emin Yıldırım, Cübbeli Ahmet, Nureddin Yıldız, Alparslan Kuytul, İhsan Şenocak, Ebubekir Sifil, Nihat Hatipoğlu, Mustafa İslamoğlu, Abdulaziz Bayındır und viele andere mehr. Darunter sind einige mit akademischem Titel und einige ohne jegliche Ijaza. Darunter sind Wissenschaftler, wie Pietisten oder Apologeten.
Im deutschsprachigen Raum gibt es leider keinen hochkarätigen Internetprediger, so dass der deutschsprachige Konsument a) weniger Auswahl und b) weniger Qualität hat.
Im internationalen Raum gibt es bekannte Namen wie aus den USA Hamza Yusuf, Nouman Ali Khan, Umar Faruq Abd-Allah, Khalid Yassin, Siraj Wahhaj oder im britischen Raum Abdul Hakim Murad. International könnte man noch Habib Ali Al Jifri, Zakir Naik, Mufti Menk und viele andere mehr nennen. Darunter sind ebenfalls alle die oben genannten Predigertypen vorhanden.
Ich will nicht verbergen, dass ich einige der von mir genannten Personen sehr schätze, andere wiederum für unerträglich halte.
Wer zusätzlich zu Deutsch und Türkisch auch Arabisch und Englisch beherrscht, ist im Vorteil. Zumindest vergleichen und unterscheiden können zwischen wissenschaftlich und unwissenschaftlich oder mit anderen Worten qualifiziert und unqualifiziert, pietistisch und apologetisch, religiös und ideologisch oder rechtswissenschaftlich und ethisch (um nur einige mir auffällige Besonderheiten aufzuzählen), kann zumindest von Vorteil sein. Ansonsten bin ich nur einer bestimmten Person oder einem bestimmten Prediger-Typen und somit einer bestimmten Version ausgeliefert.
Das Wissen von den Gelehrten nehmen:
Die Gelehrten des Islam sind aber nicht nur im Netz, wobei die Suche nach einem Link die einfachste und häufigste Methode darstellt. Man trifft auf sie vielmehr in Universitäten, Akademien, Instituten, Schulen, Moscheen oder im Privaten. Scheich Ramadan al-Buti traf ich in Damaskus an der Universität, Scheich Mohammed Rateb Al-Nabulsi in der Moschee und Scheich Ahmad Moaz Al-Khatib Al-Hasani im Privaten.
Für viele Jugendliche ist der persönliche Kontakt leider ein zu weiter und komplexer Weg.
Um auch nur einen Koranvers zu verstehen, erst einmal in einer Konkordanz nachzuschlagen (siehe die von Mohammad Fouad Abdul-Baqi), falls nötig ein Wörterbuch zu verwenden (z.B. Lisân al-Arab oder Hans Wehr), Übersetzungen (ich besitze 20) und Exegese-Werke zu vergleichen (ich besitze z.B. die von at-Tabari, Ibn Kathir, Djalalein, Sayyid Qutb, Maududi, Elmalı Hamdi Yazır, ar-Razi, as-Sabuni und Muhammad Asad), den Offenbarungsanlass zu kennen (siehe Abdulfattah al-Qadi oder Bedrettin Çetiner), ist in der Tat ein sehr mühsamer Weg.
Nur einer einzigen Quelle (das kann eine Übersetzung, eine Meinung, eine Fatwa, Online-Predigt oder ein Link sein) zu folgen, ist da viel einfacher und auch gemütlicher. Meinungsvielfalt und -verschiedenheit ist verständlicherweise unangenehm. Aber jede menschliche Übersetzung, Deutung, Erklärung, Interpretation ist ein Bemühen, oft mit relativem Ausgang (Allah weiß es immer besser!). Die Arroganz, ein absolutes Urteil abzugeben, ist im Grunde ein Zeichen von Unzulänglichkeit.
Die Meister der Narration – das sind jene, die viel reden/erzählen und die Bedürfnisse jener befriedigen, die wenig bis kaum lesen. Sie liefern jedoch kein Wissen im sachlichen und fachlichen Sinne, sondern Informationen (z.B. über das Leben eines bestimmten Prophetengefährten). Manche fällen gerne absolute Urteile und arbeiten oft mit dualistischen Methoden (eindeutig richtig/falsch, haram/halal).
Die Meister der Kognition bemühen sich zu verstehen, welche Lehren und Weisheiten hinter den Informationen stecken. Sie können den Sinn einer Überlieferung oder Geschichte erfassen und in einen neuen Sinnzusammenhang setzen. Sie können zwischen Normalfall und Ausnahmefall unterscheiden. Sie halten sich in der Regel mit ihrem Urteil zurück, weil sie sich bewusst sind, dass jedes menschliche Urteil relativ ist.
Ein Meister der Narration hat in der Tat viel Text-Wissen und antwortet auf Fragen über halal und haram vielleicht einfach nur mit „ja“ oder „nein“, was Jugendliche gerne mögen! Ein Meister der Kognition ist ein guter Methodiker, der weiß, dass ein eindeutiges „ja“ oder „nein“ oftmals ungenügend ist, dass alles einen Kontext hat und etwas, was in einem Kontext verboten ist, in einem anderen Kontext sogar geboten sein kann. Beispiele: Die Lüge oder Alkohol und Schweinefleisch. Ich weiß, dass diese Beispiele verwirren können. In welchem Kontext sind diese verbotenen Dinge wohl erlaubt?
Fazit: Wir haben Gelehrte, die dank ihrer Fähigkeit intelligent zu sein und analytisch denken zu können, aus dem Repertoire ihres Gehirns (dank der vorhandenen Synapsen) Assoziationen herstellen können.
Wir haben aber auch Gelehrte, die zusätzlich kreativ sind und Bisoziationen herstellen können, d.h. Informationen (Bilder, Vorstellungen etc.) aus unterschiedlichen begrifflichen Bezugsrahmen miteinander verknüpfen können.
Die Assoziation stellt alte Verbindungen her und sucht daher die Verbindung zum Alten herzustellen und die Bisoziation kreiert etwas Neues.
Ohne Wissen, kann man nicht kreativ sein. Intelligenz alleine reicht jedoch nicht aus, um sich (oder auch die Gesellschaft, in der man wirkt) weiterzuentwickeln, man muss dafür auch kreativ sein. Dennoch sind erstere beliebter, weil sie für die Masse leichter verständlich sind.
Da mein Seitenlimit erreicht ist, beschränke ich mich (leider) auf das bisher Gesagte. Wer weiß, ist im Vorteil! Er kann vergleichen. Wissen erfordert Zeit (oftmals viele Jahre und im Grunde ein ganzes Leben). Schaut nicht nur auf den Inhalt einer Online-Predigt (was wird gesagt), sondern auf die Methode und fragt: Wohin will mich dieser Prediger führen? Was ist sein Ziel? Etwa Grundprinzipien wie das „Allgemeinwohl“ (arab. maslaha) fördern, oder ist sein Ziel, die Menschen zu spalten, sie zu Feinden zu machen, Hass zu fördern…? Ernährt er mich mit Spiritualität (geistiger und ethischer Nahrung) oder benutzt er die Quellen (etwa eine Sure oder ein Hadith) als Waffe oder für ein bestimmtes ideologisches Ziel? Machen wir uns eine Liste von Prüfsteinen wie diese, an denen wir jeden (auch mich) messen können.
P.S.: Ein Prüfstein ist etwas, das zur Feststellung der Zusammensetzung und des Reinheitsgrades von etwas benutzt wird.