Sowohl keine Aufenthaltsgenehmigung, als auch keine Ausreisegenehmigung:
Ich bin im Allgemeinen ein sehr geduldiger Mensch. Im Jahre 1995 wurde meine Geduld jedoch stärker denn je auf die Probe gestellt. Ich hätte nicht gedacht, dass die Warterei auf meinen Flug mit „Sultan Air“ übertroffen werden könnte. Damals, 1989, hatte ich 21 Stunden am Flughafen von Istanbul gewartet, bis uns mitgeteilt wurde, dass noch Fluggäste vom Vortag warten und diese unseren Flug bekommen würden und wir dafür am nächsten Tag fliegen sollten. Ich war zum Glück der schnellste von allen, so dass ich als erster am Gate war und einchecken konnte. Im Flugzeug erzählte man uns dann, dass das Essen nicht ausreichen würde und dass wir, statt in Hamburg, in Hannover landen würden. Doch da keiner der Passagiere in Hannover aussteigen wollte, flogen wir doch noch nach Hamburg. Ich war mit Sicherheit nicht der einzige, der dieser Fluggesellschaft ein schnelles Ende wünschte. Sechs Wochen später ging sie Pleite. Aber das ist eine ganz andere Geschichte.
Zurück nach Syrien. Um dort länger als zwei Wochen bleiben zu dürfen, musste man zur Einreisepolizei und seinen Aufenthalt verlängern. Ich ging dann auch nach zwei Wochen brav dort hin. Ein Beamter sah meinen Pass an und schickte mich zu jemand anderen. Auch der sah sich meinen Pass an und meinte, ich solle am nächsten Tag wieder kommen. Also kam ich am nächsten Tag wieder. Mir wurde auch gesagt, ich solle einen Aids-Test machen und mit den Testergebnissen wieder kommen. Ein Freund begleitete mich und mir wurde etwas Blut abgenommen. Weil ich hinterher kein Pflaster bekam, holte ich einen aus meiner Tasche und versorgte mich selbst. Mein Freund sagte: „Daran sieht man, dass du ein sehr kultivierter Mensch bist.“ Ich fand die ganze Angelegenheit aber insofern interessant, weil ich bis dahin noch nie einen Aids-Test gemacht hatte. Als ich mit dem negativen Testergebnis wieder zur Polizei ging, hieß es, dass ich mich zum Verhör zum Geheimdienst melden solle. Nachdem ich die zuständige Stelle, die mich verhören sollte, endlich nach mehreren Stunden Suche fand (von wegen geheim), wurden mir dort lediglich Fragen über meinen Vater, meinen Bruder und meine Onkel gestellt (wie sie heißen, was sie arbeiten usw.), dann durfte ich wieder gehen.
Wieder bei der Polizei, wurde ich von einem Beamten zum nächsten und dann wieder zum ersten geschickt. Anschließend hieß es wieder: بكرا „Komm morgen wieder.“ Weil mir die Zeit davon lief und ich wusste, dass ich meinen Aufenthalt verlängern musste, meinten meine Freunde: „Du musst sie bestechen. Wenn du ihnen kein Geld gibst, machen sie die Arbeit nicht. Denn alle sehen in deinen Pass und suchen nach Geld zwischen den Seiten.“ Ich aber dachte brav deutsch: „Sie sind Staatsbeamte und erhalten ihren Lohn. Dafür müssen sie meine Angelegenheiten erledigen.“ Aber sie taten es nicht. Also kam ein Freund mit, der meinte: „Wenn du ihnen kein Geld geben willst, dann mache ich das für dich“. Er legte Geld in meinen (deutschen) Pass und ging zu einem der Beamten. Während sie sich unterhielten, zählte ich die Beamten. Es waren insgesamt 23, von denen drei arbeiteten. Die anderen unterhielten sich, rauchten Zigaretten, hielten die Leute am Eingang an und befragten sie oder saßen nur herum. Aber auch im arabischen Sozialismus haben alle eine Arbeit. Als ich dann einen Beamten sah, der stehend an einer schmalen Fensterbank ein kleines Stück Brot mit einer Tomate aß, bekam ich Mitleid. Man kennt ja dieses Gefühl, als ob man gleich weinen muss. Genau das empfand ich in jenem Moment. Sie, die es mir seit Wochen so schwer machten, taten mir mehr leid, als dass ich sie dafür hassen konnte.
Auch an diesem Tag hatte ich keine Aufenthaltsverlängerung erhalten. Das Geld meines Freundes war wohl zu wenig gewesen. Als ich einige Tage später wieder zur Polizei ging und am Tresen wartete, kam ein Mann mit ganz vielen Pässen. Als er sie dem Beamten gab, fielen die ganzen Geldscheine, die sich unter dem letzten Pass befanden, auf den Tisch. Der Beamte öffnete in aller Ruhe die Schublade vor sich und schob das Geld zu den anderen schmutzigen Scheinen. Plötzlich wurde mir klar, dass diese Menschen eben nur diese Arbeitsweise kannten. Als ich endlich mit meinem Anliegen kam, sagte der Beamte: „Du bist ja schon seit zwei Monaten hier und dein Aufenthalt wurde noch nicht verlängert.“ Jetzt war ich wegen Schmiergeldverweigerung auch noch illegal im Lande. Wütend sagte ich: „Das ist schon das neunte Mal, dass ich hier bin. Aber ihr verlängert meinen Aufenthalt ja nicht.“ Er legte meinen Pass wieder hin, machte eine abweisende Handbewegung und meinte: „Komm morgen wieder.“ Das war für mich nichts Neues. Mein Problem war jedoch, dass mein Ausreisedatum immer näher kam und ich ohne dieses Aufenthaltspapier nicht ausreisen durfte. Als ich dann zum zehnten Mal dort war, saß da ein mit kreuzen tätowierter Beamter, der Isa (arabisch für Jesus) hieß. Als auch dieser meinte, ich solle Samstag wieder kommen, erklärte ich ihm folgendes: „Heute ist Donnerstag (man muss wissen, dass in allen arabischen Ländern Freitags alle öffentlichen Einrichtungen geschlossen sind) und mein Flieger geht am Sonntag früh um 7.00 Uhr. Wenn ich dieses Papier am Samstag nicht bekomme, verpasse ich meinen Flieger.“ Er meinte: „Mache dir keine Sorgen. Samstag kommst du zu mir und ich erledige das für dich.“ Gesagt getan, doch er war am Samstag nicht mehr da. Und der, der da war, meinte: „Komme morgen wieder.“ Jetzt war ich wirklich am Verzweifeln. Sie wollten mir keine Aufenthaltsgenehmigung geben, aber aus dem Land konnte ich auch nicht. Ich griff zum Telefon und rief die deutsche Botschaft an. Der nette Herr am anderen Ende meinte nur: „Das höre ich zum ersten Mal, dass einem deutschen Staatsbürger so etwas angetan wird. Da müssen sie wohl jemanden auf die Füße getreten haben. Aber helfen können wir ihnen leider nicht.“ Was anderes habe ich eigentlich nicht erwartet. Aber irgendwo muss man sich doch beschweren können.
Am Sonntag ging mein Flieger ohne mich. Ich ging zum zwölften Mal zur Polizei, erklärte ihnen, dass ich meinen Flieger verpasst hatte und dann hat es doch noch geklappt. Ich bekam einen Zettel mit einem Kringel, ohne Bestechung. Am Dienstag konnte ich dann eine andere Maschine nehmen. Bei der Gepäckabgabe meinte ein Flughafenmitarbeiter: „Die Maschine ist voll, sie müssen leider hier bleiben.“ Mir stieg kurz das Blut in den Kopf, doch fügte er schnell hinzu: „Nein, nein, das war nur ein Scherz.“