Prof. Roland Mischung: „Sagen Sie nicht »ich glaube nur an das, was ich sehe«!“
Ich war bereits an vielen Universitäten und Fakultäten. Hamburg, Berlin, Kiel, Bremen, Lüneburg, Darmstadt, Hannover, Braunschweig, Münster, Osnabrück, Göttingen usw. Aber ich habe noch nie einen schöneren Saal gesehen als den Hörsaal des Instituts für Ethnologie und keine schönere Bibliothek, als an diesem Institut.
Prof. Mischung hielt eine Vorlesung, wo er über seine Feldforschung in Thailand berichtete. Er war von dem Dorf, in dem er sich aufhielt, „adoptiert“ worden. Man glaubte dort an einen Hexenkult. Eines Tages wollten sie ihm die Hexe zeigen, an die sie glaubten. Sie zeigten schließlich auf einen Baum, auf dem sie saß. „Alle konnten sie sehen, nur ich nicht“, sagte er uns. Um bestimmte Dinge wahrzunehmen, bräuchte man einen Glauben, erklärte er uns. Doch als er lange genug bei ihnen war, da konnte er… Plötzlich schwieg er während seiner Vorlesung. „Ach, lassen wir das“, sagte er, mit einer abweisenden Handbewegung. „Ich sage ihnen nur eines: sagen Sie nicht »ich glaube nur an das, was ich sehe«!“ Ich hatte den Eindruck, dass er ein – aus der Sicht eines Westeuropäers – irrationales Erlebnis hatte, das er nicht in Worte fassen konnte. Beziehungsweise fürchtete er, man könnte seine Wissenschaftlichkeit (Rationalität) infrage stellen, wenn er weiter geredet hätte.
Ethnologen sind Menschen mit interessanten Erfahrungen. Als ich eine Klausur bei Frau Prof. Waltraud Kokot geschrieben hatte, hatte sie mich bei der Rückgabe der Klausurbögen gefragt, ob ich im Anschluss Zeit hätte und in ihr Büro kommen könne. Das tat ich auch. In ihrem Büro sagte sie zu mir: „Unter allen Klausuren, ist mir ihre am meisten aufgefallen und ich wollte wissen, wer dieser besondere Mensch ist.“ Dann fragte sie mich nach meiner Biographie.
Ein ähnliches Erlebnis hatte ich mit Dr. Gerd Becker, dem ich eigentlich einen eigenen Text widmen sollte. Es war im WS 1996/97 (Proseminar: Ethnologie islamischer Gesellschaften). Er hatte mich nach dem Seminar gefragt, ob er mich im Anschluss auf einen Kaffee einladen dürfe. „Sie können vom Islam erzählen, ohne dass man ihnen anmerkt, dass sie ein Muslim sind. Das zeigt, dass sie ein guter Wissenschaftler sind. Bisher bin ich keinem Muslim begegnet, der das konnte“, sagte er. „Naja, ich studiere Islamwissenschaften. Da lernt man den Islam aus der Außenperspektive zu vermitteln“, antwortete ich ihm.
Ethnologen gehen, anders als Islamwissenschaftler, in die Kultur, die sie untersuchen. Sie versuchen sie so zu verstehen, wie die Angehörigen dieser es tun. Daher sagte ich meinen Kommilitonen in der Islamwissenschaft: „Wer nur an der Honigflasche leckt, erfährt nie wie Honig schmeckt“.