Recht ohne Ethik?
Scharia, in einer einfachen Kategorisierung, lässt sich unterteilen in die drei Bereiche Glaubenselemente (‚Aqîda), Recht (Fiqh) und Ethik/Moral (Ahlâq/Adab). Fiqh lässt sich wiederum unterteilen in die Bereiche ´ibâdât (gottesdienstliche Pflichten) und mu´âmalât (zwischenmenschliche Beziehungen). Letztere lassen sich wieder in mehrere Bereiche unterteilen, darunter die festen (thâbit) und die flexiblen Normen (mutagayyir) usw.
In Rechtsfragen sind wir alle kleine Meister. Wir wissen was erlaubt (halâl) und was verboten (harâm) ist, wie man betet, fastet usw. Aber was ist mit dem Bereich der Ethik?
Selbst Kant wurde von seinen Kritikern Rigorismus vorgeworfen, weil er bei der Frage der Legitimität einer Notlüge, zugunsten des Prinzips des Kategorischen Imperativs die Möglichkeit der Lösung eines Interessenkonflikts hintenanstellte. Wer sich mit ethischen Theorien befasst, dem eröffnen sich sehr viele Möglichkeiten mehr, die Gebote und Verbote des Islam, nicht nur in der Theorie, sondern vor allem in der unmittelbaren Praxis (auch in der Sunna des Propheten ﷺ) deutlicher nachzuvollziehen. Mit anderen Worten, Scharia lässt sich mit Recht alleine nicht verstehen.
Eine Konvertitin sagte mir einmal, dass sie anfangs sehr oft einen bestimmten Internetprediger konsumierte. Irgendwann merkte sie, dass da irgendetwas wesentliches fehlte. Sie wusste lange nicht was. Dann besuchte sie regelmäßig die Koranstunde eines Imams, der ein Ethiker war und sie erkannte, was ihr fehlte. Bei diesem fehlte ihr wiederum das rechtlich Konkrete.
Meinen Schülern gab ich einmal folgende Klausuraufgabe: Begründe deine ethische Haltung zum „Tyrannenmord“. Würdest du deine Haltung eher mit der Haltung eines Gesinnungsethikers begründen oder eher mit der Haltung eines Verantwortungsethikers?
Wie würdet ihr, liebe Freunde, diese Frage beantworten?
In Deutschland wurde z.B. politisch darüber debattiert, ob die Bundeswehr entführte Passagierflugzeuge abschießen dürfe (siehe http://www.spiegel.de/politik/deutschland/terror-flugzeuge-koalition-will-grundgesetz-aendern-a-963044.html). Die Pro- und Kontra-Argumente lassen sich auch den beiden genannten Ethiktheorien zuordnen. Wer argumentiert warum, wie? Warum gibt es einige (Muslime), die auf Recht beharren und teilweise rigoros sind und andere, die auch einen ethischen Weg in Betracht ziehen (und z.B. trotz Recht von einer Strafe absehen)?
Folgende Beispiele sollen uns behilflich sein, um Ethik und Recht in ein Verhältnis zueinander zu stellen:
Ist Essen und Trinken im Fastenmonat Ramadan erlaubt? Man kann diese Frage nicht einfach mit „nein“ beantworten. Man könnte nämlich auch sagen: „Ja, vor Morgendämmerung und nach Sonnenuntergang.“
Ist Alkohol harâm (verboten)? Diese Frage lässt sich auch nicht einfach mit „ja“ oder „nein“ beantworten, denn verboten sind alkoholische Getränke bzw. alles was berauscht. In der Medizin ist Alkohol wiederum erlaubt.
Ist Schweinefleisch harâm? Ja, das lässt sich eindeutig durch den Koran belegen. Laut Sure 2:173 ist der Verzehr in Not jedoch erlaubt. Auch hier sehen wir, dass in Ausnahmefällen Verbote aufgehoben werden.
Ist Nacktheit im Islam verboten? Ja, in der Öffentlichkeit zum Beispiel, aber nicht in den eigenen vier Wänden.
Sind Bilder verboten? Wenn sie zu Anbetungszwecken aufgehängt werden, ja, da im Islam Personenkult als eine Form des „Schirk“ (Götzendienst) gesehen wird. Das wäre z.B. der Fall, wenn jemand das Bild von Adolf Hitler an der Wand in der Mitte seines Wohnzimmers hängen hätte. Aber was, wenn sich dasselbe Bild im Bücherregal in einem Geschichtsbuch befindet? In diesem Kontext wäre es wiederum erlaubt.
Ist Lügen im Islam eine Sünde? Ja, aber da gibt es Beispiele, in denen das Lügen auch erlaubt ist. Ein Grund wäre z.B., wenn man sich oder jemand anderem das Leben retten kann. Al-Ghazzali nennt in seinem „Ihyâ Ulûm ad-Dîn“ das Beispiel einer Person, die verfolgt wird und man dem Verfolgten Zuflucht gewährt und die Verfolger auf die falsche Fährte lenkt.
In der Zeit des 2. Kalifen ´Umar (r.a.), hatte dieser die Strafe für Diebstahl in einem Hungerjahr ausgesetzt, da das Volk Not litt und der Kalif der Ansicht war, dass der Staat seine Bürger nicht bestrafen dürfe, da er die Verantwortung für die Gewährleistung ihrer Grundbedürfnisse trage (siehe Shalabî, Muhammad Mustafa: Ta´lîl al-Ahkâm. Kairo 1949, S. 62).
Die Beispiele lassen sich fortsetzen… Wichtig wäre aber nicht nur die Regel zu kennen, sondern auch zu wissen, dass es für alles auch Ausnahmen geben kann.
Nun wollen wir das Ganze etwas vertiefen: Ein Schwarz-Weiß-Denken lässt der Islam den Beispielen zufolge nicht zu. Was normalerweise verboten ist (wie die Lüge), kann in einem bestimmten Kontext sogar geboten (verpflichtend) sein!
Kann man einem Kranken, der im Ramadan isst und trinkt vorwerfen, eine Sünde begangen zu haben? Nein, denn der Kranke ist vom Fasten befreit. Er hätte also das Recht auf Essen und Trinken. Islamrechtlich betrachtet dürften er das, ethisch betrachtet sollte er jedoch Rücksicht nehmen (wobei das Vermeiden des öffentlichen Essens (z.B. vor armen Menschen) in muslimischen Ländern nicht nur für den Ramadan gilt).
Kann man jemandem, der alkoholfreies Bier trinkt, vorwerfen eine Sünde begangen zu haben? Nein, denn das Getränk ist frei von Berauschendem. Um Fitna zu vermeiden, wäre es dennoch ratsam, dies in der Öffentlichkeit nicht zu tun. Diese Begründung wäre aber keine rechtliche, sondern eine rein ethische, um Missverständnisse („der Soundso hat Bier getrunken“) zu vermeiden.
Jedes Recht hat einen ethischen Kern.
Ist jedes Recht gerecht? Wäre jedes Recht gerecht, müsste das Recht Sklaven zu halten, das in vielen Ländern der Welt über Jahrhunderte galt, gerecht gewesen sein. Apartheid müsste gerecht sein. Rassismus müsste gerecht sein.
Es gibt Gesetze, die sich ändern können, aber universelle Rechte, die sich nie ändern, wie z.B. das Recht auf Freiheit.
Mir ging es darum, erst einmal einige Grundsätze zu klären. Enden wollte ich mit diesen Beispielen:
Nehmen wir an, wir stehen an der Kasse und legen unseren Einkauf auf das Fließband. Hinter uns steht jemand mit nur einer einzigen Ware in der Hand. Hätte sie das Recht vor mir dran zu kommen? Nein, aber ich könnte sie vorlassen. Das wäre gerecht.
Nehmen wir mal an, man hat jemandem beim Diebstahl erwischt. Muss man ihn der Justiz ausliefern? Das Recht dazu hätte man. Man hätte aber auch die Möglichkeiten ihn für einen Ausgleich (wenn der Dieb das Diebesgut zurück gibt oder ersetzt) frei zu lassen oder man hätte die Möglichkeit ihm zu vergeben. Man muss also nicht immer auf (sein) Recht beharren.
Schließlich wünscht sich jeder, dass man ihm seine Fehltritte vergibt. Hier lohnt es sich an die Aussage des Propheten (Friede sei mit ihm) zu erinnern: „Keiner von euch ist gläubig, solange er für seinen Bruder nicht dasselbe wünscht, was er für sich selbst wünscht“.
(Buhari und Muslim)