Erlaubt der Islam Individualität in religiösen Handlungen?
Es gibt es Menschen wie mich, die Oliven mögen, so wie es Menschen gibt, die sie nicht mögen. So hatte auch der Prophet (Friede sei mit ihm) seine persönlichen Vorlieben (wie z.B. Datteln, Honig oder Regenwetter), aber auch Dinge, die er nicht mochte, aber anderen nicht verwehrte (wie z.B. Knoblauch).
Nicht alle Themen, die wir diskutieren, sind Relevant für unseren Glauben (also für unsere ‚Aqida). Ebenso sind nicht alle Themen, religiöse Fragen oder Fragen der Religion (z.B. ob wir uns für ein Ampelsystem oder einen Kreisverkehr entscheiden). Wir jedoch neigen oftmals dazu – vielleicht auch unbewusst -, den Glauben anderer auch an Handlungen zu messen, die weder den Bereich der ‚Aqida noch den Bereich des Dîn zu berühren. Ob z.B. jemand wie der Prophet ﷺ auf dem Boden sitzt und mit der Hand isst oder ob jemand auf einem Stuhl sitzt und mit Besteck isst, ist weder eine Frage des Glaubens, noch religiös. Ansonsten müsste das Essen mit Besteck als areligiös bzw. als unislamisch gelten. Dazu gibt es natürlich viele andere Beispiele mehr, wie die Fingernägel mit dem Zeigefinger beginnend schneiden, mit der Ehefrau um die Wette laufen, ein zerrissenes Kleidungsstück nähen usw. Also unzählige Überlieferungen vom Propheten ﷺ, die aber nicht verpflichtend sind und daher beim Unterlassen keine negativen Konsequenzen nach sich ziehen.
Das Ganze steht eigentlich in einem viel komplexeren Zusammenhang, der hier jedoch nicht ausführlich behandelt werden kann. Nämlich: Schreibt der Islam eine bestimmte Kultur vor oder legitimiert er Kulturen, die früher, später und in Gebieten außerhalb des muslimischen Lebensraumes entstanden sind?
Würde der Islam eine bestimmte Kultur vorschreiben, müsste an seiner Universalität gezweifelt werden (nämlich dass er zu allen Zeiten und an allen Orten (auch hier und heute) gelebt werden kann). Würde der Islam nämlich vorschreiben, alle gläubigen Muslime müssten so reden, sich so kleiden, so ernähren, wie die Muslime auf der arabischen Halbinsel zur Zeit des Propheten ﷺ, dann wäre das Leben der Mehrheit der Muslime (da sie außerhalb eines solchen Kulturraumes leben) nicht islamisch.
Wie jedoch ist es mit Fragen, die eindeutig in den Bereich des Glaubens oder der Religion fallen? Lässt der Islam auch dort Individualität zu? Mit anderen Worten: Kann ein Muslim religiöse Handlungen vollziehen, die der Prophet ﷺ selbst nicht vollzogen hat?
حُبّك إِيَّاهَا أَدْخَلَك الْجَنَّة
Der Prophetengefährte Anas ibn Mâlik (r.a.) berichtet, dass einige Leute zum Propheten ﷺ kamen und sich über einen Imam von den Ansâr in der Quba Moschee beschwerten. Dieser rezitierte beim Vorbeten im ersten Gebetsabschnitt immer die Sure Al-Ihlâs. Schließlich forderten sie ihn auf, dies zu unterlassen. Der Prophet ﷺ fragte diesen Vorbeter, warum er immer mit dieser Sure beginne und der Mann antwortete ihm, dass er diese Sure sehr liebe. Daraufhin sagte der Prophet ﷺ zu ihm: „Deine Liebe zu ihr bringt dich ins Paradies.“ (Überliefert bei Buhârî)
Wir sehen bei diesem Beispiel, dass der Prophet ﷺ ihn dafür nicht kritisierte, etwa in dem er zu ihm sagte: „Das ist aber nicht meine Sunna!“
Abû Huraira (r.a.) berichtete: Der Gesandte Gottes ﷺ sagte zu Bilâl Habaschi beim Morgengebet: „O Bilâl, erzähle mir von einer Tat, die du im Islam begehst und auf deren Lohn du am meisten hoffst! Denn in dieser Nacht hörte ich deine Schritte vor mir im Paradies.“ Da sagte Bilal: „Ich habe keine Tat im Islam begangen, auf deren Lohn ich am meisten hoffe, außer dass ich keine vollständige große rituelle Waschung bei Tag oder bei Nacht unternehme, ohne dass ich mit dieser Reinheit bete, solange es Allah wollte.“ (Überliefert bei Muslim)
Bilal beging also eine freiwillige, regelmäßige Tat, die selbst den Propheten ﷺ erstaunte! Auch er wurde nicht dafür gerügt, dass er eine religiöse Handlung vollzog, die nicht der Sunna des Propheten entsprach.
Zum Umgang der Prophetengefährten mit der wortwörtlichen Befolgung oder der Freiheit, selbst zu entscheiden, wann etwas angemessen ist, möge folgende berühmte Überlieferung dienen:
`Abdullah Ibn `Umar berichtete, dass der Gesandte Gottes ﷺ zu ihnen sagte, als er von der Schlacht von Al-Ahzab zurückkehrte: „Keiner soll das Mittagsgebet verrichten, bevor er die Banu Quraiza erreicht hat!“ Manche befürchteten, dass die Zeit des Mittagsgebets vergehen könnte, bevor sie die Banu Quraiza erreichten und sie das Gebet zur rechten Zeit nicht verrichten konnten. Deshalb verrichteten sie das Gebet, bevor sie die Banu Quraiza erreichten. Andere sagten: „Wir werden das Gebet nur da verrichten, wo es uns der Gesandte Gottes zu verrichten befahl, auch wenn wir es versäumen würden. Er (der Prophet) wies keine der beiden Gruppen zurecht (d.h. er tadelte keine der beiden Gruppen). (Überliefert bei Muslim)
Im Grunde zeigen uns diese Beispiele, dass religiöse Handlungen (selbst wenn sie, wie im ersten Beispiel, von einigen Prophetengefährten kritisiert wurden), vom Propheten ﷺ selbst legitimiert wurden, obwohl sie nicht seine Sunna waren.
Nun könnte man das unterschiedlich deuten: Sie waren legitim, weil in den Beispielen sowohl die Absicht als auch die Handlung (das Gebet) legitim ist. Die Frage, die sich daran anschließt ist, ob auch wir (hier und heute) islamisch legitime Handlungen (z.B. das Hören von Qur´anrezitation im Internet, Lobpreisung Allahs unter Zuhilfenahme einer Gebetskette usw.) vollziehen dürfen (weil Absicht und Handlung islamisch legitim sind), ohne dass dies etwas Tadelnswertes wäre, im Sinne der Aussage des Propheten ﷺ: „Derjenige, der einen guten Brauch (sunnatun hasana) im Islam etabliert, erhält die Belohnung dafür, und die Belohnung all derjenigen nach ihm, die ihm folgen, ohne dass ihr Lohn um das Geringste gemindert würde; wer jedoch einen schlechten Brauch einführt, auf dem lastet die Strafe all derer, die danach handeln, ohne dass ihre Strafe um das Geringste vermindert würde.“ (Überliefert bei Muslim)
Der gute Brauch (also durchaus etwas Neues) steht nicht im Widerspruch zu einem von Aischa (r.a.) überlieferten Hadith: „Wenn irgendeiner etwas Neues in unsere Angelegenheiten einführt, was nicht Teil davon ist, so wird es zurückgewiesen.“ Dieser Hadith wird einstimmig als authentisch klassifiziert. Al-Buhârî und Muslim führen diesen in ihren Sahîh-Sammlungen an. In der Version bei Muslim heißt es: „Wenn jemand etwas hervorbringt, was nicht gemäß unseren Angelegenheiten ist, so wird es abgelehnt.“ Und das scheint der entscheidende Punkt zu sein: gemäß unseren Angelegenheiten, d.h. im Einklang mit den Prinzipien des Islam.
Nachsatz zu Handlungen von Muslimen, die nicht direkt auf den Propheten ﷺ zurück gehen, aber dennoch von ihm erlaubt werden: Zu den drei Kategorien der Sunna gehört neben dem, was der Prophet ﷺ gesagt (qaul) und getan (fi´l) hat, auch die Sunna, die er gebilligt hat (taqrîr).
Letztere bezieht sich auf die Aussagen und Handlungen seiner Zeitgenossen, die er stillschweigend gebilligt hat; mit anderen Worten, zu denen er sich nicht ablehnend geäußert hat. Insofern können im Islam auch Handlungen, die nicht vom Propheten ﷺ stammen, islamisch legitim sein, sofern sie nicht einer eindeutig belegten Quelle widersprechen.
Da mir bekannt ist, dass es muslimische Geschwister gibt, die der Meinung sind, dass nur vom Propheten ﷺ gebilligte Handlungen erlaubt sind, möchte ich nur einige Fragen mit auf den Weg geben, damit die Thematik nicht als abgeschlossen gilt: In Bezug auf Lesens des Qur´ans aus einem Buch oder einer App, Beten auf Teppichen und in Moscheen mit Kuppel und Minarett, Hören des Qur´ans aus CD, Internet und Radio, gibt es auch weder eine Aussage noch eine Billigung des Propheten. Aber das sind auch alles religiöse Handlungen, die Mio. Muslime täglich vollziehen.