Ich fahre mit dem ICE. Noch zwei Stunden bis zum Ziel. Mein Handy liegt vor mir. Etwas Koran aus meiner App lesen, leise, nur mit den Augen natürlich. Nächster Halt Bremen. Jemand setzt sich neben mich. Soll ich weiter lesen? Die Person neben mir ignoriert mich zwar, aber was, wenn sie rüber schaut? Ich schließe die App. Das Abendgebet nähert sich. Oh, schnell Handy auf Lautlos stellen, sonst ertönt ein lautes „Allaaaaaahu Akbar!“ aus meiner Gebetsruf-App. Ich sehe schon, wie einige zusammenzucken und stelle mir vor, wie jemand in Deckung geht. Ich muss schmunzeln. Dann sehe ich einen Bekannten im Zug an meinem Sitz vorbeigehen. Er sieht mich auch. „Ah!“ sage ich und lege meine rechte Hand auf mein Herz. Eigentlich wollte ich „as-Salamu aleykum“ sagen, aber, ich wisst schon, die Leute. Auch er lächelt nur und macht dieselbe Handbewegung.
Ich trage zwar Bart, aber auch ein Jackett und eine Jeans, als Ausgleich sozusagen. Da werden die Leute nicht gleich Bart = Islamist setzten. Ich rufe extra jemanden an und rede Deutsch. Hochdeutsch. Muss nicht viel und lange sein. Ist eh eine schlechte Verbindung in der Bahn. Aber die Leute sollen wissen, dass ich integriert bin. Wenn mir zum Beispiel jemand Fleisch anbietet, dass nicht halal ist, sage ich immer: „Ich bin Vegetarier“. Das wird respektiert. Ich will auch nicht immer alles erklären oder mich rechtfertigen. Ich gebe Frauen immer die Hand. Ich weiß ja, dass sie das sonst als Respektlosigkeit und Abwertung empfinden. Was ich fühle, ist egal.
Ich habe mir diese Geschichte nur ausgedacht, um auf diese Weise vielleicht dem einen oder anderen aus der Seele zu sprechen. Wenn Muslime an Bahnhöfen oder Flughäfen, d.h. an Orten mit hohem „Anschlagsziel“ öffentlich beten oder Koran lesen, wird manchmal auch die Polizei gerufen. Der könnte sich ja damit von dieser Welt verabschieden, könnten einige denken. Er bereitet sich sozusagen auf die letzte Aktion vor. Die Assoziationen zwischen beten und Terror scheint unser Denken zu beherrschen. Wenn dem so ist, sollten wir sowohl die Mehrheit stärker sensibilisieren als auch dort, wo es möglich ist, keine Ängste fördern (ist Sunna).
Wenn du in einem Land, wo FREIHEIT so groß geschrieben, so laut gefeiert, so stark verteidigt wird, Angst hast, den Koran zu lesen, „as-salamu aleykum“ zu sagen (was ja „ich wünsche dir Frieden“ bedeutet) oder vielleicht sogar Angst hast, Kopftuch zu tragen, weil deine freie Entscheidung dazu führt, das man gegen dich vorgeht, bis hin zu körperlicher Gewalt, dann läuft hier auch etwas extrem falsch. Gamze K. aus Kiel zum Beispiel, wollte nicht heucheln, sie wollte ihre Identität nicht verstecken, sie hatte keine Angst, sie selbst zu sein. Aber das wollte jemand nicht akzeptieren. Nein, nicht nur das; er wollte es zerstören. Psychisch wie physisch.
Wenn man nicht mehr der sein darf, der man sein will, dann wird Heuchelei gefördert.
Mein Respekt vor allen Schwestern, die trotz der erschreckenden Nachrichten, die vielleicht noch nicht einmal 1% der Realität widerspiegeln, mutig ihr Kopftuch tragen und Gefahr laufen, wie Gamze K. eine Faust ins Gesicht zu bekommen!
Nun fördere ich mit diesem Satz selbst Angst. So weit sind wir schon gekommen! Wat nu? Angst ist ein schlechter Ratgeber, heißt es. „Sie müssen mehr Demonstrieren. Mio. Muslime sollten mit Mio. Nichtmuslimen auf die Straße und gemeinsam auf die Straße“ sagte mir kürzlich jemand von den Bundespolizei aus Brandenburg. „Machen Sie einen Stand, so dass man Sie nicht übersehen kann“, riet er mir. „Ich weiß, dass das schwierig ist, aber wir wollen die Stimme der Muslime viel stärker wahrnehmen!“