Al-Maslaha (Das Gemeinwohl)
Der folgende Text ist aus dem Werk „Muslimsein in Europa“ (Köln 2001, S. 105-112) von Tariq Ramadan entnommen. Er gibt Einblick in die unterschiedliche Bewertung und Verwendung des „Maslaha-Prinzips“ im islamrechtlichen Kontext:
Der Begriff der Maslaha als juristischer Terminus hat (seit seiner ersten Verwendung vorwiegend durch die Gelehrten der malikitischen Schule und der entschiedenen Gegnerschaft der dhahiritischen Schule, insbesondere von Ibn Hazm) viele Debatten ausgelöst. Diese Auseinandersetzungen waren nicht immer gerechtfertigt. Denn oftmals handelte es sich wohl eher um Definitionsfragen hinsichtlich des Verhältnisses zu den Quellen und zum Rahmen der Scharia.
In der jüngeren Vergangenheit wurde dieser Begriff benutzt, um jegliche Art von neuen fatâwâ (Rechtsgutachten) zu rechtfertigen, sogar solche, die in offensichtlichem Widerspruch zu den eindeutigen Belegen aus Koran und Sunna standen, wie zum Beispiel bei Regelungen bezüglich des Zinses (riba) oder der Erbschaft. Es ist also angebracht, die ersten Untersuchungen und Arbeiten in diesem Bereich kurz in Erinnerung zu rufen, nicht nur um die Bedeutung von al-Maslaha zu erfassen, sondern auch um zu erkennen, was wir im Lichte der zeitlichen Entwicklung und der Verschiedenartigkeit der Rahmenbedingungen aus ihnen lernen können. Imam Malik (715-795) gebrauchte den Begriff des istislah, der „Suche nach dem Guten“ bedeutet. In seinem juristischen Untersuchungen stütze er sich auf das Beispiel der Gefährten – die viele Rechtsentscheidungen im Lichte des Gemeinwohles unter voller Achtung der Quellen fällten -, um damit zu rechtfertigen, dass die „Suche nach dem Guten“ eine der Quellen und somit einen Teil der Scharia bildet. Nach der von Imam asch-Schafi’i (767-820) vorgenommenen Kodifizierung begannen die Gelehrten mit der Erarbeitung von Unterscheidungen hinsichtlich der Frage der Quellen, ihres juristischen Anwendungsgebietes, der Hierarchie der Werte bei den Geboten usw.
Viele Gelehrte, wie al-Djuwayni (1028-1085) in seinem Al-Burhân oder der Mu’tazilit Abu al-Husayn al-Basri in „Al-Mu’tamad fi usul al-Fiqh“ (beide lebten im 11. Jahrhundert), bezogen sich in der einen oder anderen Weise auf diesen Begriff. Zu dieser Zeit hatte der Streit um die genaue Definition seiner Bedeutung und seiner Rolle im Instrumentarium des islamischen Rechts bereits eingesetzt. Es war Abu Hamid al-Ghazzali (1058-1111), der mit seiner strengen Kodifizierung den klarsten Rahmen lieferte, in dem diese Frage seither und bis in unsere Tage angegangen wird. In seinem „al-Mustasfa min ‚ilm al-Usûl“ stellte er mit großer Genauigkeit fest: „In seiner wesentlichen Bedeutung bezeichnet al-Maslaha die Suche nach etwas Nützlichem (manfa´a/منفعة) oder die Beseitigung von etwas Schädlichem (madarra/مضرّة). Aber das ist nicht, was wir sagen wollen, denn die Suche nach dem Nützlichen und die Beseitigung des Schlechten sind die Zwecke (maqâsid), auf die hin die Schöpfung angelegt ist, und das Gute (salâh) in der Erschaffung der Menschheit besteht in der Verwirklichung dieser Zwecke. Wir verstehen unter Maslaha die Bewahrung der Religion, des Lebens, der Vernunft, der Nachkommenschaft und des Eigentums. Was die Bewahrung dieser fünf Prinzipien (usul) gewährleistet ist Maslaha; was ihrer Bewahrung entgegensteht ist mafsada/مفسدة und dessen Beseitigung ist Maslaha.“ (Band 1, S. 286f.)
Diese allgemeine Definition steckt einen Rahmen ab, auf den sich fast alle späteren Gelehrten stützten, weil sie sich implizit auf die Quellen bezieht, ohne die Unterscheidung zu machen zwischen einerseits dem Zweck des Guten, wie er in Koran und Sunna enthalten ist, und andererseits seiner Bestimmung durch den Menschen, wenn er sich nicht eindeutig aus den Quellen ergibt. In der Tat stellte sich al-Ghazzali mit dieser Definition in den Zusammenhang der Debatten der Gelehrten: und mittels dieser Klärung konnte seine detailliertere Kodifizierung dazu beitragen, ein genaueres Verständnis von al-Maslaha und der Bedeutung dieser juristischen Debatte zu erarbeiten: sein Beitrag war daher von großer Wichtigkeit.
Al-Ghazzali führt die drei Arten der Maslaha im weiten Sinne auf: ad-darûrîyât/ ﺍﻟﻀﺮﻭﺭﻳﺎﺕ (das unerlässlich Notwendige) bezieht sich auf die erwähnten fünf Punkte der maqâsid asch-scharia (hier im Sinne der Zwecke des Rechts), nämlich die Bewahrung der Religion, des Lebens, der Vernunft, der Familienbeziehung und des Eigentums; al-hâdjîyât/ الحاجيات (das Erforderliche oder das Ergänzende) betrifft den Schutz vor dem, was eine Quelle von Schwierigkeiten im Leben der Gemeinschaft sein könnte, ohne jedoch zum Tod oder zur Zerstörung zu führen; und schließlich die at-tahsînîyât/ ﺍﻟﺘﺤﺴﻴﻨﻴﺎﺕ oder al-kamâlîyât/الكماليات (das Zusätzliche, die Vervollkommnung), die alles betreffen, was zu einer Vervollkommnung des Gottesdienstes beiträgt. Diese drei Kategorien umfassen alle Aspekte der masâlih (Gemeinwohl) des Menschen, sowohl als Person wie auch als Gottesdiener, und sie waren äußerst selten Anlass für Debatten oder Polemiken.
Was zu Meinungsverschiedenheiten und Konflikten in Rechtsdenken führte, war die Frage, ob es eine Notwenigkeit für diesen Begriff innerhalb des islamischen Rahmen gibt, oder ob es angebracht ist, al-Maslaha als unabhängige, obgleich ergänzende Quelle der Scharia zuzulassen (und somit als einen Bestandteil derselben, dessen Umfang abzustecken wäre), oder ob schließlich darin einfach ein Teil einer anderen Quelle, qiyâs zum Beispiel, zu sehen ist. Diese drei Positionen stützen sich auf eine Klassifikation, die drei Arten der masâlih unterscheidet (nach ihrer Klasse und nicht nach ihrem Rang in der Wertehierarchie). Die Gelehrten entwarfen so eine Typologie nach dem Grad der Nähe der Maslaha zu den Quellen. Wenn sich die Maslaha auf einen Hinweis aus dem Text (Koran oder Sunna) stützt, so heißt sie Maslaha mu’tabara/معتبرة (anerkannt) und ihre Gültigkeit steht nicht zur Diskussion. Wenn umgekehrt die Maslaha im Widerspruch zu einem unbezweifelbaren Text (nass qat´i) steht, so heißt sie mulgha/ملغاة (ungültig) und kommt damit nicht in Betracht. Der dritte Typ Betrifft die Situation, in der es keinen Text gibt: der Koran und die Sunna bestätigen nicht die Maslaha, welche nach der Zeit der Offenbarung aufgetreten ist, schließen sie aber auch nicht aus. Eine Maslaha dieser Art wird mursala/مرسلة (unbestimmt) genannt, da sie den Gelehrten ermöglicht, auf ihre Analyse und persönliche Reflexion zurückgreifen, um eine Rechtsentscheidung im Lichte des historischen und geographischen Kontextes zu treffen und so weit wie möglich den Vorschriften und dem „Geist“ des islamischen rechtlichen Rahmens da treu zu bleiben, wo der Text, der „Buchstabe“ des Gesetzes schweigt.
Dieser dritte Typ hat viele Debatten und Polemiken ausgelöst (deren Analyse den Rahmen unserer Untersuchung übersteigt). Es soll hier der Hinweis genügen, dass die Hauptursache für die Uneinigkeiten die Furcht der Gegner der Existenz der maslaha mursala war, dass ein solcher Begriff, nachdem das Feld einmal geöffnet ist, den Gelehrten erlauben könnte, Regelungen ohne Bezug auf Koran und Sunna auf der Grundlage einer rein rationalen und vollkommen freien Reflexion zu formulieren. Das waren die Hauptargumente der dhahiritischen Schule und vieler schafi´itischer und malikitischer Gelehrter, die al-Maslaha al-mursala, die sich nicht auf die Quellen bezog – nicht als juristischen Beweis anerkennt: sie sahen darin einen Scheinbeweis (wahmiya) ohne Gültigkeit für die Gesetzgebung. Die gleiche instinktive Furcht vor einem rein rationalen Ansatz ohne Bindung zu den islamischen Quellen veranlasste al-Ghazzali zu einer Einschränkung der Untersuchung der Maslaha auf das Anwendungsfeld des qiyâs (Analogie), der seiner Natur nach eine sehr enge Beziehung mit dem Text erfordert, um diesem die Grundlage (´illa) zu entnehmen, auf welcher der Analogieschluss beruht.
Diese Befürchtungen waren in der Tat begründet, da, wie sich im Laufe der Geschichte zeigte, manche Gelehrte im Namen von al-Maslaha urteile fällten, mit denen sie mitunter die Weise und die Bedingungen des Gebrauchs der juristischen Instrumente im islamischen Rahmen völlig veränderten und verzerrten. Das trifft beispielweise auf den berühmten hanbalitischen Rechtsgelehrten Nadjm ad-Din at-Tûfi (1276-1316) zu, der sich anmaßte, der Maslaha den Vorrang vor den Texten von Koran und Sunna einzuräumen, welche ihm zufolge nur dann Anwendung finden, wie al-Mahmassani sagte: „Wenn das Gemeinwohl nichts anderes erforderte“. In unseren Tagen sehen wir zudem seltsam anmutende „moderne islamische Rechtsentscheidungen“ auf der Grundlage einer „modernen Maslaha“, die in offensichtlichem Widerspruch zu den Quellen steht. So dient auch der Begriff der Maslaha mursala zur Rechtfertigung der eigentümlichen Verhaltensweisen und der zweifelhaftesten Geschäfte, Finanzoperation und Investitionen durch Banken unter dem Vorwand, dass sie dem „Gemeindewahl“ dienen oder dienen könnten oder müssten.
Diese Art von Entgleisung war nicht typisch für die Mehrheit der Fürsprecher einer Anerkennung der Maslaha mursala als authentischer und legitimer Rechtsquelle. Sie waren der Auffassung, die Formulierung islamischer Rechtsentscheidung sei im Lichte von und in Übereinstimmung mit Koran und Sunna und darüber hinaus unter bestimmten anspruchsvollen Bedingungen auszuführen (und zwar selbst wen al-Maslaha al-mursala als unabhängige Quelle in Ermangelung eines Textes betrachtet wurde). Eine eingehende Untersuchung der verschiedenen Meinungen (für oder gegen al-Maslaha al-mursala) zeigt, dass die Gelehrten in vielen wichtigen Punkten übereinstimmt, selbst wenn man die von ihren Fürsprechern, in erster Linie die vom Alim von Granada asch-Schâtibi (gest. 1388) aufgestellten Bedingungen betrachtet.
Wir finden in diesen Arbeiten eine Reihe von Bedingungen und Erläuterungen hinsichtlich der Anerkennung des „Gemeinwohls“ als gültiger Rechtsquelle, die deren Anwendung einschränken und den Gelehrten unmöglich machen, ungerechtfertigt auf al-Maslaha zurückzugreifen. Ohne zu sehr in die Einzelheiten zu gehen, können wir hier drei (in Ermangelung eines relevanten Textes freilich) allgemein anerkannte Hauptbedingungen anführen:
1. Die Analyse und Bestimmung muss mit größter Sorgfalt ausgeführt werden, um sicherzustellen, dass es sich um eine authentische (haqiqiya) und nicht bloß scheinbare oder trügerische (wahmiya) Maslaha handelt. Die Gelehrten müssen ein hohes Maß an Gewissheit erlangen, dass die Aufstellung einer Regelung in Achtung des islamischen Rahmens eine Schwierigkeit behebt und nicht umgekehrt das Übel vergrößert.
2. Die Maslaha muss allgemein (kulliya) sein und dem ganzen Volk und der Gesellschaft in der Gesamtheit nutzen und nicht nur einer Gruppe, einer Klasse oder einer einzelnen Person.
3. Die Maslaha darf nicht in Widerspruch oder Gegensatz zu einem Text des Korans oder der authentischen Sunna stehen. In einem solchen Fall handelt es sich nicht um Maslaha mursala, sondern um Maslaha mulgha.
Diese drei Bedingungen zeichnen die große Linie, mittels derer wir den Begriff der Maslaha, des Gemeinwohles im islamischen Recht verstehen müssen. Was in erster Linie klar sein muss, ist der Vorrang von Koran und Sunna vor jeder anderen Grundlage und jede anderen juristischen Instrument. Yusuf al-Qaradawi erinnert unter Rückgriff auf die Position von al-Ghazzali, Ibn al-Qayyim und asch-Schâtibi zurecht daran, dass der gesamte Inhalt der Koran und der Sunna an sich dem „menschlichen Interesse“ im allgemeinen entspricht, da der Schöpfer weiß und will, was für die Menschen das Beste ist. Und ihnen Zeit, wie sie dies verwirklichen können. Gott sagt im Koran in Bezug auf die offenbarte Botschaft:
„Er gebietet ihnen das Gute und verbietet ihnen das Böse, und der erlaubt ihnen die guten Dinge und verwehrt ihnen die schlechten, und er nimmt hinweg von ihnen ihre Last und die Fesseln, die auf ihnen lagen.“ (Sure 7:157)
„Oh ihr Menschen! Nunmehr ist Ermahnung zu euch gekommen von eurem Herrn und eine Heilung für das, was in den Herzen sein mag, und eine Rechtleitung und Barmherzigkeit für die Gläubigen.“ (Sure 10:57)
Ibn al-Qayyim al-Djauziyya faste dies folgendermaßen zusammen: „Die Prinzipien und die Grundlagen der Scharia bezüglich der Vorschriften und menschlichen Interessen in dieser Welt und im Jenseits gründen alle auf der Gerechtigkeit, der Barmherzigkeit, dem Wohl des Menschen und der Weisheit. Sinnlosigkeit hat nichts mit der Scharia zu tun, selbst wenn sie aus einer allegorischen Interpretation (tawil) folgt. Denn die Scharia ist die Gerechtigkeit Gottes unter Seinen Dienern, die Barmherzigkeit Gottes unter Seinen Geschöpfen, Sein Schatten auf der Erde und Seine Weisheit, die zugleich der Beweis Seiner Existenz und das beste Zeugnis der Authentizität Seines Propheten ﷺ ist“. (Siehe: Iʿlām al-muwaqqiʿīn ʿan rabb al-ʿālamīn, Kairo, o.J., Band 3, S. 1).
Das Streben nach dem Wohl (Maslaha) des Menschen in diesem Leben und im Jenseits ist das eigentliche Wesen der islamischen Gebote und Verbote. Wenn diese in Koran und Sunna klar zum Ausdruck kommen (qat´i ath-thubut wad-dalala), müssen sie geachtet und angewendet werden im Lichte eines umfassenden Verständnisses der Zwecke der islamischen Lehre. Die maqâsid asch-scharia bilden und repräsentieren das Wohl (Maslaha), welches der Schöpfer Seinem Geschöpf offenbart und mitgibt, um es zum Guten zu leiten.
Allerdings gibt es, wie wir bereits sagten, manchmal ein Schweigen in den Quellen. Angesichts neuer Situation und Fragestellungen können die Gelehrten keine Antwort in Koran und Sunna finden; mithin müssen sie, geleitet vom Licht der Offenbarung und vom Beispiel des Propheten ﷺ, Regelung finden, welche die Interessen und das Wohl der Menschen berücksichtigten, ohne die Quellen zu missachten. Diese Interessen oder dieses Wohl wird masalih mursala genannt und ermöglicht, zu allen Zeiten und allen Orten als Muslime zu leben und ihnen eine zu große Last zu ersparen, denn Gott sagte: „Allah wünscht, es euch leicht und nicht schwer zu machen“.
Und genau dies taten die Gefährten, angefangen mit Abu Bakr und Umar (r.a.), in jeder neuen Situation. Al-Qaradawi sagt dazu: „Das ist das Gebiet, das die Usûliyyûn unter dem Namen al-masalih al-mursala kennen, das heißt die Interessen, die kein Text des Korans oder der Sunna bestätigt oder negiert. Sowohl die auf die Quellen oder auf Auszüge derselbe gegründeten Regeln als auch die Handlungsweise der rechtgeleiteten Kalifen und der Gefährten beweisen die Richtigkeit des Denkens derjenigen, deren Schulen sich auf den Begriff der mashala (mursala) bezogen und ihn als Beweis anerkannten“.
Das ist also der Rahmen, in dem wir das Konzept von al-Maslaha begreifen müssen, das oftmals aufgrund eines Mangels an Klarheit in der Definition und aufgrund der strengen und anspruchsvollen Bedingungen seiner Anwendung umstritten war. Manchmal wurde es durch Gelehrte in übertriebener Weise angewendet, wenn sie versuchten, jegliche „moderne Entscheidung“ oder jeglichen „Fortschritt“ im Namen der Maslaha zu rechtfertigen. Wir haben dagegen gesehen, dass dieser Begriff sehr genau bestimmt ist und seine Definition, Stufen, Arten und Bedingungen seitens der Gelehrten eine stete Bezugnahme auf die Quellen verlangt, damit sie Entscheidungen im Einklang mit der offenbarten Botschaft selbst dann treffen können, wenn es keine Texte gibt. Sie müssen sich an diese Aufgabe machen, durch eine gründliche, schwierige und eingehende Untersuchung der muslimischen Gemeinschaft neue rationale und von der Offenbarung geleitete Entscheidungen zu liefern. Eben dies ist der Sinn von al-idjtihâd, der zugleich die Rechtsquelle und das Rechtsmittel ist, um eine Dynamik auf dem Gebiet des islamischen Rechts in Gang zu setzen.