Hand oder keine Hand? Das ist hier die Frage!
Wenn Ärzte erklären, dass sie ihren PatientInnen aus hygienischen Gründen keine Hand geben, dann ist das leicht verständlich. Wenn ein Imam einer Politikerin (siehe Fall Julia Klöckner, CDU) nicht die Hand gibt, dann kann das zu Schlagzeilen führen: http://www.theeuropean.de/…/10486-imam-verweigert-julia-klo….
Wenn ein Rabbiner das nicht tut, dann ist es eben so, wie etwa der SPIEGEL nebenbei berichtet: http://www.spiegel.de/…/der-rabbiner-shlomo-bistritzky-will…
Wer es aber dennoch verstehen will, kann hier einen Einblick in jüdische Positionen bekommen, die auch ohne weiteres muslimische Erklärungen sein könnten: http://www.juedische-allgemeine.de/article/view/id/23984).
Eine Schulleiterin jedoch, die Verständnis für Schüler hatte, die das Händeschütteln verweigerten, wurde dafür kritisiert (http://www.spiegel.de/…/schueler-verweigert-handschlag-lieb…).
Es gibt sogar eine Webseite zum Thema: http://www.no-hands.de/
Das Thema wird auch im religiösen Kontext diskutiert (eine interessante islamische Interpretation ist zu lesen unter: http://www.lichtwort.de/tunUndNichtTun/frau-hand-geben.pdf), aber in unserem gesellschaftlichen Kontext kommen verschiedene neue Aspekte hinzu. Ein für mich wesentlicher Aspekt scheint die Unsicherheit im Umgang mit Fremdheit zu sein. Daran anschließend die Angst vor Überfremdung. Des Weiteren handelt es sich um einen Machtdiskurs: Wer darf über wen bestimmen?
Zum Ersteren: Während Muslime zwischen 1960-2000 als exotisch wahrgenommen wurden (sich merkwürdig kleidende Menschen mit komischen Gewohnheiten), wurden sie immer mehr als Gefahr wahrgenommen. „Islampolitik“ war auch immer „Sicherheitspolitik“. Im Zuge dieser „Angstpolitik“ wurde Andersartigkeit nicht als Vielfalt und Bereicherung, sondern immer mehr als Bedrohung („des Abendlandes“ oder „der freiheitlichen Demokratie“) wahrgenommen. Das Ergebnis ist, dass wir eine verängstigte Gesellschaft haben, die auf jede Abweichung von der selbstbestimmten Norm allergisch reagiert. Kopftuch tragen, Beschneidung der Jungen, kein Schweinefleisch essen und jetzt kein Händeschütteln. Alles Themen, die von der Norm der Mehrheit abweichen. Eigentlich kann mir egal sie, wie sich jemand kleidet, ob jemand beschnitten wurde oder nicht, was jemand isst oder ob sich jemand von mir nach meinen Normen begrüßen lassen will. Mir schon, aber nicht der Mehrheit, die Angst hat, Schritt für Schritt das Ruder aus der Hand zu verlieren. Das sind im Grunde Phänomene, die – auch ohne Muslime im Lande – natürliche Prozesse sind. Gesellschaften verändern sich; etwas durch Kriege, durch Klimawandel, durch Auswanderung, durch Medien, ja sogar die Sprache (shoppen, chillen etc.) ändert sich. Das muss alles nichts mit Religion oder Islam zu tun haben. Die einen gehen mit der Veränderung, andere wehren sich dagegen.
Genau das ist m.E. das Thema: Wie flexibel (tolerant) ist unsere Gesellschaft in Bezug auf natürliche Veränderungsprozesse? Wenn immer mehr Muslime in Deutschland leben, die auch ihre Kulturen mitbringen, wie viel Raum für Selbstbestimmung erlaubt ihnen unsere Gesellschaft? Ansonsten laufen wir Gefahr, fremde Begrüßungskulturen zu kriminalisieren. So aber überzeugt man Menschen nicht, sondern stigmatisiert sie. Einer solchen Entwicklung müssen jedoch alle vernünftigen Kräfte in unserer Gesellschaft (über alle Parteien und Religionen hinweg) entgegenwirken.
Am Schluss meines Beitrags möchte ich eine Begrüßungsübung vorstellen, die ich mir in der kultursensiblen Pflege ausgedacht habe (darf gerne übernommen werden):
Diese Übung habe ich bereits neunmal durchgeführt, davon siebenmal im Krankenhaus, dann einmal mit ErzieherInnen und einmal mit Flüchtlingshelfern.
Ich bitte dabei immer drei Männer und drei Frauen nach vorne. Dann bitte ich einen Mann vor einen Mann, eine Frau vor eine Frau und einen Mann vor eine Frau zu stellen. Dann sage ich: „Begrüßen Sie sich bitte verbal. Jetzt geben Sie sich gegenseitig die Hände. Und zuletzt küssen Sie sich bitte auf die Wangen!“
Bei den ersten beiden Übungen machen alle mit. Bei der dritten Übung gibt es Schwierigkeiten. Am einfachsten haben es die beiden Frauen. Schwierig wird es bei Frau und Mann. Am problematischsten ist es interessanterweise für die beiden (deutschen) Männer. Die fühlen sich bei der letzten Übung am merkwürdigsten.
Zweimal haben zwei Männer die letzte Übung verweigert und einmal eine Frau und ein Mann. Das ist alles durchaus legitim. Aber was war das Ergebnis der Übung?
Wenn man uns, uns fremde Begrüßungskulturen aufzwingen will (zwei deutsche Männer begrüßen sich in der Regel nicht mit Wangenkuss), dann fühlen wir uns unwohl.
Ich sage, dass ich das Ganze nicht werten möchte, im Sinne von: das ist besser als das andere, sondern hier geht es vielmehr um das Verständnis von Nähe und Distanz und um Grenzüberschreitungen. Niemand möchte, dass seine Grenzen überschritten werden. Wenn ich mich z.B. mit jemandem auf der Straße unterhalte, stehen wir nicht Nase an Nase (das wäre zu intim), aber auch nicht 5m entfernt. Sondern ca. eine Armlänge. Kommt der andere mir einen halben Schritt zu nahe, gehe ich automatisch einen halben Schritt zurück.
In den USA hat man uns immer gefragt: „Can I hug you?“ D.h., man hat uns erst gefragt und nicht einfach umarmt (weil es dort so ist) und dann von uns eine Rechtfertigung oder Entschuldigung erwartet, wenn wir uns gegen diese Grenzüberschreitung gewährt haben. Es wäre also völlig in Ordnung, wenn man auch hierzulande sein Gegenüber fragt (was ja auch vorkommt): „Darf ich Ihnen die Hand geben?“ oder: dem/der anderen selbst den ersten Schritt überlässt. Wenn man denn will.