Ein Sozialpädagoge sieht in dem Haus der Jugend, in dem er arbeitet, einen Jugendlichen mit einem schwarzen Cap, auf dem sich eine weiße Schrift in Arabisch befindet. Er fordert den Jugendlichen auf, das Cap abzunehmen und begründet das mit: „Wir sind eine religionsneutrale Einrichtung und religiöse Symbole haben hier nichts verloren.“ Der Jugendliche weigert sich und der Pädagoge droht ihm mit einem Hausverbot. Der Junge gibt nach und darf hinein. Als er das nächste Mal wieder mit dem selben Cap kommt, erteilt ihm der Pädagoge ein Hausverbot und der Junge geht. So geschehen in einem Hamburger Haus der Jugend, wie es der Sozialpädagoge selbst geschildert hat.
Was stand auf dem Cap? Wieso hat der Jugendliche dieses Cap getragen? Wusste er, was auf seinem Cap stand? War das Cap vielleicht ein Geschenkt? Was, wenn dort z.B. Sabr (Geduld) auf Arabisch stand? Oder war das ein Cap mit der „Schahada“, also mit dem islamischen Glaubenszeugnis? Und falls ja, inwiefern darf man das verbieten? Was, wenn es kein Junge, sondern eine Muslimin mit Kopftuch gewesen wäre, würde das dann auch für sie gelten? D.h., dürfen Kopftuchträgerinnen nicht in ein Haus der Jugend? Und was ist mit Mädchen, die ein Kreuz an ihrer Halskette tragen? Was ist mit T-Shirts, auf denen sich politische Symbole befinden, z.B. Hammer und Sichel oder ein Stern oder eine Faust?
Ein Imam erzählte während eines Workshops, dass auch er einmal einen Jugendlichen auf der Straße auch mit einem schwarzen Cap mit dem islamischen Glaubenszeugnis gesehen hat. Der Imam war wiederum erstaunt darüber, dass der Jugendliche eine Bierflasche in der Hand hatte. Es ist durchaus möglich, dass der Jugendliche nicht weiß, was auf seinem Cap steht oder er trägt es aus modischen Gründen oder das Cap ist für ihn ein Kompromiss: Ich praktiziere zwar nicht den Islam, bin aber trotzdem ein Muslim. Schließlich gibt es auch Musliminnen mit Kopftuch, die nicht praktizierend sind.
Die große Frage ist, warum lösen bestimmte Dinge (ein schwarzes Cap mit arabischer Schrift oder ein Kopftuch) oder auch bestimmte Themen („islamischer Staat“ oder wenn ein Schüler in der Schule beten möchte) bestimmte Reaktionen aus? Man sieht oder hört etwas und plötzlich wird im Kopf ein Schalter umgestellt, der eine Art Kettenreaktion auslöst. Im Grunde wird eine negative Assoziationskette in Gang gesetzt, wo die Ratio ausgeschaltet wird.
All die Fragen, die ich mir oben in Bezug auf den Jugendlichen gestellt habe, hätte sich der Sozialpädagoge auch stellen können. Bei mir hätte das Cap keine Reaktion ausgelöst. Zumindest hätte ich keinen Grund für eine sofortige Intervention gesehen. Vielleicht hätte ich bei Gelegenheit (unter vier Augen) neugierig nachgefragt, ob er wisse, was auf seinem Cap steht? Selbst wenn ich skeptisch wäre, würde ich strategisch ganz anders vorgehen: ich würde ihn fragen, woher er das hat. Ob man so etwas aus dem Internet bestellen kann oder ob es einen Laden gibt, der so etwas verkauft. Aber zu intervenieren, zu drohen (mit Hausverbot), käme mir nicht in den Sinn.
Wieso also reagieren einige Menschen mit Sanktionen? Kann es sein, dass sie selbst ein Problem mit „Religion(en)“ haben? Mich interessiert also der Mechanismus, der in Gang gesetzt wird, wenn z.B. jemand „Allahu Akbar“ ruft oder zum Gruß seine Hand nicht gibt oder was auch immer.
Eine interessante Erklärung ist, dass in unserer Gesellschaft bestimmte rechtliche und ethische Codes gelten (z.B. sich beim Grüßen die Hand zu geben) und wenn jemand gegen diesen Code verstößt, also gegen das, was unsere Gesellschaft als Norm anerkannt hat (oftmals im Unterbewusstsein), dies plötzlich als Gefahr für die eigenen Werte wahrgenommen wird. D.h., bei jenen, die von diesen Codes geprägt sind, gehen plötzlich die Alarmanlagen an und sie können sich gegen diesen Alarmschalter erst einmal gar nicht wehren. Das ist so, als wenn man sich gegen einen Schmerz nicht wehren kann, wenn einem eine Nadel sticht. Allerdings gilt das nicht nur für eine Seite, die sich durch all diese Codes sicher fühlt. Die Codes geben uns also Sicherheit im Umgang miteinander.
Eine pluralistische Gesellschaft ist nicht von Kontinuität, sondern von Wandel betroffen. Problematisch ist, wenn alle(!) rechtlichen Codes wie Dogmen gesehen werden (also als unveränderlich) oder wenn ethische Codes, die von Individuum zu Individuum unterschiedlich sein können, wie rechtliche Codes (Gesetze) behandelt werden.
Abgesehen von der Unterscheidung zwischen rechtlichen und ethischen Codes und der Unterscheidung zwischen rationalen und emotionalen Herangehensweisen, erscheint mir die Selbstreflexion als wichtig: Warum habe ich so reagiert, wie ich reagiert habe? Was hat das in mir ausgelöst? Was waren die Gründe dafür?
Warum gerät z.B. ein Lehrer, ein Schulleiter oder gar die ganze Lehrerschaft in Panik, wenn ein Schüler fragt, ob er in der Schule beten darf? Was löst diese Frage (der Schalter für eine Kettenreaktion) aus? Etwa: „Der Schulfrieden wird dadurch gefährdet“. Oder: „Wenn wir es einem erlauben, dann wollen auch andere Sonderrechte“. Oder: „Was, wenn das zu einem Gruppenzwang führt? Was, wenn sich da etwas entwickelt, was sich unserer Kontrolle entzieht? Was, wenn sich die Jugendlichen radikalisieren?“ Alles Argumente, die ich schon einmal gehört habe. Also eine negative Assoziationskette, die nicht Lösungs-, sondern Konfliktorientiert ist.
Warum ist das so? Vermutlich ist das Ganze viel komplizierter, als hier dargestellt, wie bei dem doppelten Eisberg-Modell. Was befindet sich alles unter der Wasseroberfläche?
Mir scheint, solange wir nur über die Konflikte reden (was oben sichtbar ist), werden wir nur diese wahrnehmen, aber nicht die Ursachen, Ängste, Wünsche oder Werte, die sich unter der Wasseroberfläche befinden. Nur bei der Betrachtung des Ganzen, kann über Lösungsansätze nachgedacht werden. Führt man aber einen Machtdiskurs (wir alleine haben zu entscheiden und ihr habt euch zu fügen), sind Konflikte unausweichlich. Wer diesen Weg wählt, hat natürlich kein Interesse an Kompromissen bzw. an gemeinsamen Lösungen. Das Ergebnis liegt auf der Hand. Jeder, der seine Interessen mit Macht durchsetzt, macht es sich sicher leicht, sollte sich aber auch über die Konsequenzen für die andere Seite Gedanken machen: Enttäuschung, Wut, Hass, Rachegefühle usw. sind mögliche Ergebnisse. Denn auch hier löst die Aussage oder Handlung der Ungerechten bei den Betroffenen etwas aus. Auch sie haben ihre Schalter und Assoziationen. Frei von Einflüssen zu sein, können wir nicht, wir können uns jedoch selbst reflektieren und immer erst uns selbst fragen: „Warum fühle ich mich gerade so, wie ich mich fühle?“, statt immer nur anderen die Schuld für unsere Gefühle zu geben.
Also, Sabr (Geduld) nicht nur auf der Mütze, sondern vor allem im Geist tragen!