Als ich 2014 eine Moscheeführerfortbildung in München hatte, kam ein Jugendlicher zu mir und fragte, ob er bei mir studieren könne. Er habe nie zuvor von der Perspektivwechsel-Methode gehört und würde das gerne lernen wollen.
Wenn wir uns in einem Dialog befinden, wollen wir doch immer verstanden werden. Bzw. wollen wir richtig verstanden werden, was auch heißen kann: Wir wollen von dem anderen exakt so verstanden werden, wie wir uns selbst verstehen. Aber ist das denn überhaupt möglich? Das ist nur dann möglich, wenn wir uns darum bemühen, den anderen annähernd so zu verstehen, wie er sich selbst versteht.
Aber wollen wir das überhaupt immer? Falls nicht, dann gilt: Wer den anderen nicht verstehen will, kann nicht erwarten, selbst verstanden zu werden.
Als ich z.B. die Dokumentation „The Angry Eye“ von Jane Elliott (hier ein Beispiel dazu https://www.youtube.com/watch?v=GyIcXmXuakQ) gesehen habe, fühlte mich mit den diskriminierten Schwarzen in den USA verbunden. Ich bin aber auch Menschen begegnet, die die Methode Jane Elliotts kritisierten. Da hörte ich die Stimme meiner Grundschullehrerin, der ich von zwei offenkundigen Diskriminierungserfahrungen erzählt hatte: „Nein Ali, so etwas gibt es bei uns in Deutschland nicht“. Wem eine bestimmte Erfahrung fehlt, kann sie natürlich anzweifeln.
Als ich auf einer Jahrestagung der Nordelbischen Kirche 2005 in Flensburg eine AG zu „Islam in den Religionsbüchern der Sek I“ leitete, war eine der Aufgaben, die ich stellte: Werden die Themen zum Islam (auch) entsprechend dem Selbstverständnis der Muslime erklärt oder ist vielmehr die „Fremdperspektive“ ausschlaggebend? Das war lediglich in zwei von 17 Büchern, die wir analysierten, der Fall.
Die Fähigkeit zum Perspektivwechsel ist eine Kompetenz des Hamburger Religionsunterrichts. Sie fördern kann jedoch nur jemand, der sie selbst beherrscht.
Nun möchte ich ein paar Beispiele geben, die sicherlich zu kritischen Kommentaren anregen werden. Aber das ist ja auch teilweise beabsichtigt.
Versetzen wir uns Mal in die Lage eines Nichtmuslims, der kaum Kontakt zu Muslimen hat (die Mehrheit hat gar keinen Kontakt) und nur aus den Medien sein Islamwissen bezieht. Was für ein Bild vom Islam und den Muslimen mag dieser wohl haben, bzw. wie hoch ist die Wahrscheinlichkeit, dass er ein positives Bild hat? Die Umfragen über „Angst vor dem Islam“ zeigen ein deutliches Bild. Studien (siehe von Kai Hafez: https://www.iisev.de/…/das-gewalt-und-konfliktbild-des-isl…/) zeigen, wie unausgewogen Medien leider über Islam berichten.
Wir zitieren oft den Kalifen Ali (r.a.) mit: „Die Menschen sind Feinde dessen, was sie nicht kennen“, aber trifft dieses Zitat nicht auch auf uns zu? Was wissen wir über Juden und Christen oder die atheistische Weltanschauung?
Beispiele:
1. Frauen beten hinter den Männern: Laut Sure 49:13 sind die Angesehensten bei Gott diejenigen, die am meisten Taqwâ („Frömmigkeit“) besitzen. Laut Aussage des Propheten (Friede sei mit ihm) sieht Gott nicht auf das Äußere des Menschen, sondern in sein Herz und auf seine Taten. Die Trennung im Gebet hat praktische Gründe (Körperkontakt, Schamgefühle etc.), aber Außenstehende interpretieren das aus unserer Sicht falsch. Wenn wir es ihnen erklären, wollen wir so verstanden werden, wie wir es sehen. Sie müssen zwar nicht unsere Gebetsform annehmen, sollten sie aber zumindest nachvollziehen.
2. Christliche Missionare: Was bewegt einen Christen dazu, Muslime zu missionieren? Haben wir uns je in seine Situation hineinversetzt, um ihn zu verstehen? Was wäre, wenn er das als eine „religiöse Pflicht“ betrachtet, also als einen Kernbestand seines Glaubens?
Und nun umgekehrt: Was, wenn wir hierzulande bestimmte Dinge nicht dürften, die für uns Pflicht sind? Würden wir auch nicht wollen, dass man uns lässt?
3. Die nichtmuslimische Kritik an der Hinrichtung von Apostaten im Islam? Sicher ein heikles Thema mit vielen Interpretationen: Muss jeder Apostat (arab. murtadd) hingerichtet werden oder galt die Aussage des Propheten nur einer bestimmten Person? Oder unter welchen Umständen darf ein Apostat hingerichtet werden? Warum wird im Qur´an nur eine jenseitige Strafe angedroht und keine irdische usw.
Darum geht es hier gar nicht. Es geht darum, dass wir die Kritik nicht akzeptieren können. Nehmen wir aber mal an, es wäre umgekehrt; wenn in bestimmten nichtmuslimischen Ländern jene, die zum Islam übertreten, dafür hingerichtet werden. Warum? Na weil es ihre Religion oder Gesetzgebung es so vorsieht. Sollte das wirklich so sein, müssten wir doch die ersten sein, die es nachvollziehen können?
Nehmen wir mal an, wir argumentieren folgendermaßen: „Wir sind ja im Besitz der Wahrheit und deswegen sind wir das Maß für richtig und falsch. Was fällt Dir (Ali) also ein, solch unzulässige Vergleiche zu ziehen? Meinst Du etwa, sie seien uns ebenbürtig?“ Dann folgen vielleicht Suggestionen und Assoziationen in Richtung liberaler Islam etc. Das ist nicht unser Thema, sondern der Perspektivwechsel.
Was ich vielmehr meine ist, dass wir mit der Methode des Perspektivwechsels besser nachvollziehen können, warum andere so denken, wie sie denken und so handeln, wie sie handeln. Nur darum geht es mir. Mir geht es nicht darum, meinen Glauben zu relativieren, so wie der andere auch seinen Glauben vor mir nicht relativieren möchte.
Ich weiß, dass es auch Juden und Christen gibt, für die nur ihre Religion allein der einzig wahre Weg ist (das nennt man auch Exklusivismus). Der Begriff des „auserwählten Volkes“ oder die Formel „Nur in Jesus Christus allein ist das Heil, die Erlösung…“ mag allgemein bekannt sein. Hinter bestimmten Methoden (wie wir argumentieren) steht immer auch ein bestimmtes Welt- und Menschenbild.
Die Kernfrage lautet: Wie gehen wir mit Absolutheitsansprüchen um? Apologetisch oder dialogisch? Kämpferisch oder friedlich? Intolerant oder tolerant? Folgen wir jeweils dem Gesetz des Mächtigen oder nehmen wir uns die Sure 5,48 zum Maßstab? „…Einem jeden von euch haben Wir eine klare Satzung und einen deutlichen Weg vorgeschrieben. Und hätte Allah gewollt, Er hätte euch alle zu einer einzigen Gemeinde gemacht, doch Er wünscht euch auf die Probe zu stellen durch das, was Er euch gegeben. Wetteifert darum miteinander in guten Werken. Zu Allah ist euer aller Heimkehr; dann wird Er euch aufklären über das, worüber ihr uneinig wart.“
Ich würde mich über weitere Beispiele mit Perspektivwechsel freuen oder über Fragen, wie wir mit dieser Methode, das bessere Verständnis für uns selbst und für andere fördern können.
Folgende Geschichte empfehle ich, um zu verstehen, warum es wichtig ist, auch die Perspektive der Betroffenen zu kennen, bevor man über sie urteilt:
https://www.facebook.com/permalink.php?story_fbid=994704570575972&id=785653871481044