- Bist Du Dir bewusst, warum Du einer bestimmten Gruppe folgst?
Die Affekt-Logik bezeichnet die Wechselwirkung von Fühlen und Denken. Auch das wissenschaftliche Denken ist nicht frei von Emotionen.
Affekt bezeichnet einen Sammelbegriff für Gefühle. Logik hingegen meint kognitive Prozesse (auch das selbstverständlich Vertraute).
Bei der Zusammensetzung von Affekt & Logik spricht man einerseits von „Logik der Affekte“ und andererseits von „Affektivität der Logik“.
Logik der Affekte bezeichnet die Feststellung von Regelhaftigkeit. Bei schlechter Stimmung nehmen wir dieselben Dinge anders wahr, als bei guter Stimmung (zum Beispiel bei Stau auf der Autobahn).
Affektivität der Logik meint, dass das Denken selbst die Gefühle lenken kann. Kognitives, harmonisches Zusammenfügen vieler komplexer Bausteine kann zu positiven Ergebnissen führen und das Erkennen von Zusammenhängen kann zu einem Glücksgefühl führen (Bspl.: Man hat ein Rätsel gelöst und freut sich über das Ergebnis).
Kollektive Affekt-Logik wiederum meint, das auch das Handeln von Gruppen von Emotionen geleitet werden kann. Siehe Großevents (wie Fußballspiele), die durch Gruppendynamiken ein stärkeres „Wir-Gefühl“ erzeugen. Je mehr Menschen ein gemeinsames Interesse teilen, umso stärker kann das Glücksgefühl sein. Wir-Gefühle sind Zugehörigkeitsgefühle zu einer Gruppe. Gemeinschaft und Einheit führen ebenfalls zu einem Glücksgefühl, auch wenn die Gemeinschaft eine Minderheit sein sollte. Die Gruppe hat damit einen Verstärker-Effekt!
So wie Nationalismus als Wir-Gefühl empfunden werden kann, kann auch Religion dieses Gefühl vermitteln.
Ausgrenzung aus der Gruppe oder Gesellschaft wird hingegen als schmerzhaftes Gefühl wahrgenommen.
– Was bedeuten diese Aussagen für Jugendliche, die bestimmten Gruppen anhängen?
Teilhabe an einer exklusiven Gemeinschaft, die im Besitz der einzigen Wahrheit bzw. Lösung ist, stärkt das Zugehörigkeitsgefühl. Wenn etwas zur Selbstverständlichkeit wird, wird alles, was davon abweicht, als falsch verworfen. Die Zugehörigkeit zu einer Gruppe ist für Jugendliche identitätsstiftend. Ausgrenzungen und Diskriminierungen (fehlende gesellschaftliche Akzeptanz) hingegen erschweren das Zugehörigkeitsgefühl zur Gesellschaft, in der man lebt. Auch die Abgrenzung zu den Eltern (etwa in der Pubertätsphase oder durch Konversion) erschwert ihnen die gesellschaftliche Akzeptanz.
Diskriminierung und Ausgrenzung können zu Scham und Wut führen. Das daraus resultierende Leidgefühl wird als Schmerz empfunden.
Angst vor Anschlägen auf der einen Seite, ein Klima des Misstrauens auf der anderen Seite und gegenseitige Vorwürfe, verstärken das ganze Dilemma.
– Welcher Seite gehört man zu?
Es existiert ein Druck auf Jugendliche, sich für eine Seite entscheiden zu müssen, manchmal mit fatalen Ausgängen. Die Konfrontation mit ausgrenzenden Fragen (wie: Bist Du für Scharia oder Grundgesetz, Islam oder Demokratie, fühlst Du Dich als Türke oder als Deutscher? usw.) oder Situationen, verstärken diesen Druck.
Ob Kopftuch- oder Islamdebatte (Beispiel: Gehört der Islam zu Deutschland?) wird als Angriff auf die eigene Person wahrgenommen.
In vielen muslimischen Ländern herrscht Gewalt und Krieg. Das Leiden anderer Muslime verstärkt auch bei Jugendlichen das eigene Leidgefühl. Mitleid und Ohnmacht entstehen durch das Wir-Gefühl der Bedrohung. Es findet eine Identifikation mit der schwächeren Seite der Unterdrückten statt. Gewalt wird dabei für einige zum letzten Mittel zur Befreiung. Widersprüche werden nicht mehr wahrgenommen. Die Gruppe wird zum höchsten Wert, für den es sich Lohnt zu töten und zu sterben.
In individualisierten Gesellschaft ist die Bereitschaft für eine Gruppe zu sterben geringer als in kollektivistischen Gesellschaften. Der Bereitschaft muss allerdings ein Bedrohungsgefühl vorausgehen. Das Überleben der Gruppe wird dann wichtiger als das eigene Leben. Krieg z.B. kann auch in individualisierten Gesellschaften einen kollektiven Reiz auslösen.
So wie es bei diskriminierten muslimischen Jugendlichen ein „Wir-Gefühl“ gibt, gibt es auch westliche Wir-Gefühle, wo die eigene Bedrohung Solidaritäten hervorruft (Beispiele: „Je Suis Charlie“ oder „Je Suis Paris“). Die gleiche Solidarität findet für muslimische Opfer (Beispiel: Syrien, Irak, Palästina etc.) nicht statt. Diese Einseitige Solidarität wird auch von muslimischer Seite registriert.
Das „Wir“ der Europäer und das „Wir“ der Muslime geht dabei immer weiter auseinander. Europäer solidarisieren sich nicht mit den Opfern in muslimischen Ländern, verlangen aber von Muslimen eine Distanzierung von Gewalt. Muslime jedoch erwarten auch eine Distanzierung der Europäer von Opfern westlicher Kriege.
In der soziologischen Radikalismusforschung, die sich ja nicht speziell mit Religion oder Islam befasst, wird sich viel abstrakter mit dem Phänomen des Radikalismus befasst. Ein interessantes Ergebnis dieser Forschung ist, dass wir uns gesellschaftlich zwar an dem Phänomen „Salafismus“ reiben, aber uns dank dieser Debatte mit viel tiefgründigeren Ursachen von Radikalismus in unserer Gesellschaft auseinandersetzen, die fern von Religion sind. Sie macht vor allem deutlich, das die Frage nach Radikalismus allein im Islam als Religion zu suchen und eine eindeutige und spezifische Antwort darauf zu geben, falsch ist.
Der sogenannte Westen und die sogenannte muslimische Welt haben eine sehr lange gemeinsame Geschichte von den Kreuzzügen über den Kolonialismus bis hin zum Neokolonialismus mit wirtschaftlichen Interessen und der Unterstützung von Diktaturen durch westliche Regierungen.
Siehe zum Thema „Gefühle“ auch meinen Beitrag auf Facebook vom 07.07.15.
Buchempfehlungen:
Ciompi, Luc; Endert, Elke: Gefühle machen Geschichte: Die Wirkung kollektiver Emotionen – von Hitler bis Obama. Verlag: Vandenhoeck & Ruprecht 2011
Transformationen des Wir-Gefühls – Studien zum nationalen Habitus. Herausgegeben von Reinhard Blomert, Helmut Kuzmics und Annette Treibel. Berlin 1993