Ich erinnere mich noch sehr gut an den frisch gepressten Blutorangen-Saft in Damaskus. Als ich ihn trank, verlor ich für zwei Sekunden mein Bewusstsein. Ich hatte noch nie so etwas leckeres getrunken. Die Tomaten und Kartoffeln rochen ganz anders als die in Deutschland, nämlich echt und ich aß fast täglich Falafel, so dass ein syrischer Freund (Ibrahim Nasîf) zu mir sagte: „Ich habe noch nie jemanden gesehen, der so viel Falafel isst.“ Das Brot wurde direkt aus dem Ofen verkauft und zwar in Kilo. Da ich zum Arabischlernen dort war und nicht wusste, was „halb“ (نصف) auf Arabisch bedeutete, bekam ich immer ein Kilo Brot. Ich möchte mit euch Geschichten aus der Zeit vor Baschar Al-Assad teilen. Wer Syrien liebt, wird sie sicherlich auch lieben.
Scheich Mu´âz al-Khatîb (https://en.wikipedia.org/wiki/Moaz_al-Khatib):
Als ich ihn 1993 zuhause besuchte, war er für mich ein unbekannter junger Imam aus Damaskus. Groß, schlank, blaue Augen und ein lächelndes Gesicht. Seine Wohnung glich einer alten Bibliothek mit vielen antiken Gegenständen. Sein Großvater sei ein osmanischer Pascha gewesen, erzählte er mir. Er zeigte mir ein Regal voll mit handgeschriebenen Bänden seines Großvaters über Kindererziehung im Islam. Zwei Jahre hatte er als Imam in London gedient. Er war nur mit einem Koffer angereist und hatte auf dem Rückweg vier Koffer bekommen. Er sagte: „Ich weinte vor Verzweiflung. Wie sollte ich vier Koffer tragen? Sie hatten mir sogar Marmelade für ihre Verwandten eingepackt, die in einem der Koffer zerbrochen ist.“
Er fragte mich dann, ob ich nicht Lust hätte, ihn am Freitag in seiner Moschee zu besuchen. Sie hieß „Dukk al-Bab“ und war extra für ihn gebaut worden. „Du wirst dort etwas sehen, worüber ich im Anschluss mit dir sprechen möchte. Aber ich werde noch nicht verraten, was“, fügte er hinzu. Als ich mich verabschiedete, schenkte er mir zwei Kassetten mit seinen Predigten.
So ging ich am Freitag in seine Moschee und fand Platz auf der Empore. Es dauerte nicht eine Minute, da wusste ich, was er meinte. Die gesamte Gemeinde bestand aus Jugendlichen. Nur einen einzigen alten Mann sah ich unten rechts sitzen. Dieser war der Hausmeister, wie ich später erfuhr. In der Predigt ging es um den Pharao, als Symbol für ungerechte, tyrannische Herrscher. Nach dem Gebet stellte ich ihm folgende Frage: „Kritisiert ihr Imame auch die Regierung?“ (Damals war Hafiz al-Assad, der Vater von Baschar al-Assad Präsident). „Ständig“, sagte er lächelnd. „In jeder Moschee sitzen Regierungsleute, die die Imame kontrollieren. Wir reden daher immer sehr allgemein. Die Leute wissen aber immer, was und wen wir eigentlich meinen.“
Relativ später erfuhr ich, dass er, der später auch als Imam der historischen Umayyaden-Moschee tätig war, im syrischen Bürgerkrieg der erste Anführer der syrischen Opposition (1st President of the National Coalition for Syrian Revolutionary and Opposition Forces) wurde.
Siehe auch Interview auf Al Jazeera: https://www.youtube.com/watch?v=zJ2ysFsC9Zg