Bei Prof. Noth ist der erste Gedanke, der mir kommt, einer, der sichtlich Spaß an seiner Arbeit hatte. Er war stets gut gelaunt. Manchmal behielt er sogar seinen Mantel im Unterricht an und ging mit den Händen in der Hosentasche auf und ab und unterrichtete lebendig sein Fach. Während Prof. Rotter sich für aktuelle politische Themen interessierte (z.B. „Die Verfassungen arabischer Staaten“), waren Prof. Noths Gebiet klassische Themen. Daher hatte er immer viel zu erzählen.
Was ich am meisten an ihm schätzte, waren seine Methoden. Er kam zu den Klausuren in den Seminarraum, gab allen die Fragen und sagte: „Haben sie irgendwelche Verständnisfragen?“ Dann sah er auf seine Uhr und sagte lächelnd: „In drei Stunden kommt meine Sekretärin und holt die Klausuren ab. Da sie alle erwachsen sind, gehe ich davon aus, dass sie nicht voneinander abschreiben werden. Schließlich lernen sie für sich und nicht für mich. Ich kenne ja die Antworten auf meine Fragen.“
Während der Klausuren durften wir immer alle unseren Materialien sowie Arabischwörterbücher benutzen. „Sie sollen unter Zuhilfenahme ihrer Materialien die Fragen beantworten können“, sagte er. „Sie sollen nichts auswendig lernen, z.B. wann ein Kalif wann regiert hat. Sie sollen nur wissen, wo man was nachschlägt. Wir bilden hier schließlich Forscher aus.“
Seine Seminare waren inhaltlich sehr gut strukturiert, ohne dass er irgendwelche Notizen verwendete. „Seit 31 Jahren lehre ich“, sagte er des Öfteren, um auf seinen Erfahrungsschatz hinzuweisen. Er war dennoch bescheiden. Manchmal ließ er sich auch korrigieren (als er behauptete, ein Muslim dürfe zwei Schwestern gleichzeitig ehelichen und er von einem ägyptischen Studenten korrigiert wurde) oder erlaubte alternative Gedankengänge (einmal meinte er, kein einziger Hadith sei heute als authentisch nachweisbar. Da sagte eine Studentin: „Wieso sollen Muslime uns das nachweisen? Wenn wir behaupten, dass ein Hadith gefälscht sei, müssten wir doch die Fälschung beweisen. Was wenn ich an der Kasse einkaufe und die Kassiererin behauptet, mein Geldschein sei eine Fälschung; muss ich die Fälschung nachweisen oder sie?“ Da dachte Prof. Noth nach und nickte zustimmend). Aber manchmal ließ er auch keine Kritik zu (als ein Student mit einer Buchquelle kam, um eine Aussage von Prof. Noth zu widerlegen, sagte er trocken: „Der Autor lügt!).
Das letzte Zitat aus meinen vielen Erinnerungen zu Prof. Noth stammt aus einer Tagung an der Uni Hamburg 1996, gemeinsam mit Prof. Abdoldjavad Falaturi, Prof. Mahmoud Ayoub (Philadelphia) und Prof. Reinhard Schulze (Bern). Prof. Noth sagte: „Ich könnte niemals Muslim werden. Wenn sie wüssten, wie viele Pflichten der Mann im Islam hat. Ein normaler Mensch kann diese niemals erfüllen. Könnten sie das etwa?“, fügte er hinzu und zeigte fragend auf das Publikum.
Ich habe während der Vorlesungen und Seminare immer ein Verlaufsprotokoll geschrieben. D.h. ich habe versucht, alles mitzuschreiben, was ich anschließend zuhause abgetippt und (damals mit einem Nadeldrucker) ausgedruckt habe.
Eine der berühmtesten Zitate von Prof. Noth, die ich mitgeschrieben hatte, war:
„All diese ägyptischen Jugendlichen, die mit dem Koran in der Hand für die Einführung der Scharia demonstrieren, haben keine Ahnung von Scharia. Wer hat sie denn abgeschafft, so dass sie wieder eingeführt werden müsste? Ich habe tausende Seiten Scharia gelesen. Mit Scharia kann man gut Muslim sein, aber nicht über Muslime herrschen, weil Scharia kein Herrschaftsinstrument ist. Alle Muslime, auch hier in Deutschland, praktizieren täglich Prinzipien der Scharia, zum Beispiel wenn sie sich ernähren, kleiden, heiraten oder ihre Toten beerdigen. Und das Grundgesetz schützt diese Prinzipien durch Religionsfreiheit.“
Als ich von seinem Tod erfuhr, wünschte ich, hätte ich doch das eine oder andere Gespräch mehr mit ihm geführt.