Liebe Freunde,
nehmen wir einmal an, in einem Krankenhaus kommen zwei Babies zur Welt. Das eine Kind ist das Kind einer kurdenfeindlichen, türkischen Familie und das andere Kind ist das Kind einer türkenfeindlichen, kurdischen Familie. Nun werden diese Babies aus Versehen vertauscht. Das türkische Kind wächst dann in einer kurdischen Familie auf und fängt später an Türken zu hassen und das kurdische Kind wächst in einer türkischen Familie auf und fängt an Kurden zu hassen.
Wer sich die Konsequenzen solcher Polarisierungen auf eine komödienhafte Weise ansehen will, sollte sich die Filme „Alles Koscher“ oder „Herbe Mischung“ ansehen.
Aussagen wie „Kurdenfrage“ oder „Kurdenproblem“ sind ungeeignet, wenn man über ein historisch wie gesellschaftlich relevantes und komplexes Thema wie dieses redet. Denn wie würden wir es empfinden, wenn jemand von der „Türkenfrage“ oder vom „Türkenproblem“ sprechen würde? Da wäre er wieder, der Perspektivwechsel, für den ich ständig plädiere.
Viele Kommentare zum Thema suggerieren in der Regel „eine“ türkische Version oder „eine“ kurdische Version. Wer spricht eigentlich für wen? PKK und Öcalan für „die Kurden“ oder für „alle Kurden“? Ihre Gegner für „die Türken“ oder für „alle Türken“? Was ist mit den über 7 Mio. Tataren oder den vielen Arabern, Lazen, Georgiern, Armeniern, Tscherkessen, Aserbaidschanern und vielen anderen Ethnien mehr in der Türkei? Die Türkei ist ein Vielvölkerstaat mit schätzungsweise mehr als 70 Ethnien.
Sind alle Kurden PKK-Anhänger? Sind alle PKK-Sympathisanten Terroristen? Sind alle Türken Nationalisten? Sind alle Türken gegen Kurden? Viele leiden unter den Polarisierungen („wir und sie“) und Verallgemeinerungen. Opfer sind jene, die sich polarisieren und manipulieren lassen. Vielleicht ist eines der Hauptprobleme die schweigende Mehrheit, so dass Splittergruppen die Debatte dominieren können. Nicht nur die Frage, ob jeder Kurde ein PKK-Anhänger sei, sondern auch die Frage, ob alle Kurden links, kommunistisch, anarchistisch oder alevitisch sind, wäre zu klären. Sind die meisten nicht sunnitisch-schafiitische Muslime – falls Religion überhaupt eine Rolle spielen sollte? Das erinnert mich an den Generalverdacht hierzulande von einem nicht unbeachtlichen Bevölkerungsanteil gegen Muslime, sie würden mit Terroristen sympathisieren.
Selbst unter „den“ Türken gibt es drei verschiedene „Nationalismen“. Der Jüngste unter ihnen ist der Kemalismus, der von jedem, der in der Türkei geboren wird (auch von Kurden), abverlangt, ein stolzer Türke zu sein (dazu steht politisch z.B. die CHP, ehemals HP). Dann gibt es den Pan-Türkismus, für den das Türkentum bis nach Sibirien reicht (dazu steht politisch die MHP). Für das osmanische Millet-System hingegen war jeder – egal ob Türke, Kurde, Jude, Christ… – ein Osmane (eine Koryphäe auf diesem Gebiet ist übrigens Prof. Ahmet Akgündüz). Dazu steht politisch die AKP.
Haben die bisherigen Aufstände und bewaffneten Auseinandersetzungen Frieden gebracht? Ich weiß, dass ich ein höchst politisches Thema anspreche und dieser Beitrag auch extreme Reaktionen auslösen kann. Gespannt bin ich auf Kommentare meiner „Facebook-Freunde“. Schließlich outen wir uns mit unseren Beiträgen und Kommentaren. Gespannt bin ich auch darauf, ob (weiter) polarisiert wird, ob Lösungs- oder problemorientiert, ob rational oder emotional argumentiert wird.
Wie wäre es mit mehr Investitionen in den Südosten? Bessere Straßen, mehr Schulen, Arbeitsmöglichkeiten… Wer beschäftigt ist, seine Familie ernähren kann bzw. alles hat, was er zum Leben benötigt, geht nicht in die Berge und greift nicht unbedingt zur Waffe. Das wäre zumindest ein Lösungsansatz.
„Der dritte Weg“ wäre m.E. ein Blick von außen, wie aus der Vogelperspektive. Blicken wir einmal gemeinsam auf dieses Land, diese Region, die Menschen. Und zwar nicht aus der Sicht eines Terroristen (denn das sind die meisten Kurden nicht) oder aus der Sicht eines Nationalisten (und davon entfernen sich seit einigen Jahren immer mehr Türken) oder aus der Sicht jener, die eine bewaffnete Auseinandersetzung befürworten (und das wollen viele nicht), sondern aus der Perspektive jener, die nach Lösungen dursten.
Ich rede nicht von Tatsachen, für die wir nicht verantwortlich sind (wie wirtschaftliche Interessen von Industriestaaten in dieser Region), sondern von uns als türkische Individuen, die sich eine Meinung über „Kurden“ bilden.
Das aber setzt erst eine ganz individuelle Positionierung voraus. Folge ich dabei weiter den einseitigen und polarisierenden Argumenten oder bemühe ich mich, mich von diesen zu lösen und einen eigenen Blick darauf zu werfen? Sind meine Meinungen wirklich meine oder zitiere ich nur die Meinungen anderer, die ich aus dem Internet, aus Artikeln, Sendungen und anderen Quellen übernommen habe? Das kann jeder für sich bewerten. Was und wie viel weiß ich überhaupt, um mir eine sachgemäße Meinung zu bilden? Oder bin ich emotional automatisch auf einer bestimmten Seite?
Der dritte Weg ist für mich als Muslim ein islamischer Weg. Er ist ein gerechter Weg, der immer auf der Seite derjenigen ist, denen Unrecht getan wird. So wie der Prophet (Friede sei mit ihm), wie er selbst sagte, auf der Seite jener sein wird, denen Unrecht getan wird (und sei es ein Jude oder ein Christ). „Wird einem Türken Unrecht getan, bin ich ein Türke und wird einem Kurden Unrecht getan, dann bin ich ein Kurde“ habe ich kürzlich irgendwo gelesen.
Kann ich als Türke einem Kurden Recht geben? Kann ein Kurde einem Türken Recht geben? Ja, wenn sein Maßstab nicht der Nationalismus, sondern die Gerechtigkeit ist. Zu diesem Grundsatz sollte folgende drei koranische Beispiele genügen:
„O ihr Gläubigen! Seid auf der Hut bei der Wahrnehmung der Gerechtigkeit und seid Zeugen für Allah, auch dann, wenn es gegen euch selbst oder gegen Eltern und Verwandte geht. Ob der eine reich oder arm ist, so ist Allah beiden näher; darum folgt nicht der persönlichen Neigung, auf dass ihr gerecht handeln könnt. Und wenn ihr aber (die Wahrheit) verdreht oder euch von (der Wahrheit) abwendet, so ist Allah eures Tuns kundig.“ (4:135)
„O ihr Gläubigen! Setzt euch für Allah ein und seid Zeugen der Gerechtigkeit. Und der Hass gegen eine Gruppe soll euch nicht (dazu) verleiten, anders als gerecht zu handeln. Seid gerecht, das ist der Gottesfurcht näher. Und fürchtet Allah; wahrlich, Allah ist eures Tuns kundig.“ (5:8)
„Wahrlich, Allah gebietet, gerecht zu handeln, uneigennützig Gutes zu tun und freigebig gegenüber den Verwandten zu sein; und Er verbietet, was schändlich und abscheulich und gewalttätig ist. Er ermahnt euch; vielleicht werdet ihr die Ermahnung annehmen.“ (16:90)
Jeder Mensch wünscht sich, gerecht behandelt zu werden. Dann haben alle ein Anrecht darauf. Das Unrecht der einen sollte nicht andere dazu verleiten, ebenso ungerecht zu handeln. Ansonsten setzt sich nicht die Gerechtigkeit, sondern immer der Stärkere durch.
Vielleicht mag der eine oder andere Musikfreund den Text des Songs „Astronaut“ von Sido und Andreas Bourani anhören: „… Wir alle tragen dazu bei, doch brechen unter der Last. Wir hoffen auf Gott, doch ham‘ das Wunder verpasst …“ Da frage ich mich: „Haben Rapper folgenden koranischen Grundsatz besser verstanden als wir?“
„Die gute Tat ist der schlechten nicht gleichzustellen. Erwidere die schlechte, die dir geschieht, mit einer guten! So wird derjenige, mit dem eine Feindschaft bestand, zu einem engen Freund.“ (Sure 41, Vers 34).
Und ich möchte uns noch in Erinnerung rufen: „Keine Feindschaft ist ewig, außer die des Satans gegen den Menschen, die wir allerdings nicht selbst bestimmen konnten!“